Eine Gebrauchsanweisung für den Kapitalismus
Es sind phantastische Aussichten, die sich den Lesenden in „Drifter“ von Ulrike Sterblich eröffnen.
Wenzel Zahn ist ein Normalo. Er moderiert den Online-Kommentarbereich eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders und hat es sich in seinem unspektakulären Alltag als Großstadtsingle bequem eingerichtet. Abgebrochenes Studium, chronisches Beziehungsunglück und die Überzeugung von der eigenen Durchschnittlichkeit lassen ihn zwar nicht verzweifeln, ein grübelnder Pessimist mit Selbstzweifeln ist er aber allemal. Zum Glück gibt es Killer, der eigentlich Marco Killmann heißt und erfrischend pragmatisch und kraftvoll sein Dasein bestreitet.
Killer und Wenzel könnten unterschiedlicher nicht sein, dennoch sind sie durch ihre alte Kinderfreundschaft eng mit einander verbunden, darauf ist Verlass. Jedenfalls so lange bis Ludovica Malabene, Vica genannt, und ihre Gefolgschaft auftauchen und sich so Einiges im Alltag der beiden Freunde verändert.
Ulrike Sterblich legt mit diesem Buch eine Einladung zum Ausbruch vor, zur nonchalanten Wildheit, einem Über-den-Dingen-Sein. Diese Rolle nehmen in einer Gesellschaft klassischerweise Intellektuelle, Schriftsteller*innen, Kreative ein. Manch einem mag Ulrike Sterblich in eben dieser Rolle schon seit Langem bekannt sein.
Denn Ulrike Sterblich ist das Supatopcheckerbunny – in dieser Rolle gestaltete und moderierte sie von 2004 bis 2011 die geistreichen und komischen Berlin Bunny Lectures auf dem Gelände der Kulturbrauerei. Die Bunny Lectures waren eine Plattform und Bühne für eine Szene von Autor*innen, die sich hier auch mit dem Literaturmarkt und der Kulturszene kreativ und kritisch auseinandersetzten und hier ihre Peergroup trafen.
Ebendieses Motiv des Streben nach Selbstwirksamkeit tritt in Sterblichs Roman immer wieder zutage.
Wie herbeigezaubert tauchen die neuen Protagonisten, nämlich Vicas Gang, auf. Und ihre Wirkmächtigkeit, die den Lauf der Dinge in der namenlosen Großstadt subtil und effektiv beeinflussen, ist magisch. Sie erinnern stark an Michael Bulgakows Teufelsfigur Voland und ihre Gefolgschaft in „Der Meister und Margarita“ (erstmalig erschienen 1966, Moskwa, Moskau). Bulgakows Figuren wollen Chaos und Anarchie, fordern Bürgertum und selbstverliebte Kommunisten heraus, dabei sind siei skrupellos und zugleich verführerisch.
Vica und ihr Sidekick Jezebel Guevara sind mindestens genauso frech und fesselnd wie ihre Vorbilder. Nicht nur durch ihre besonderen Kräfte strahlen sie Überlegenheit aus. Die Figur Vica erscheint gleich in der ersten Szene auf der Bildfläche: Sie sitzt in im goldenen Kleid in der S-Bahn, wird von einem übergroßen Hund begleitet (hier erkennen wir deutlich die menschenähnliche Katzenfigur bei Bulgakow wieder) und blättert in einem Buch, das Wenzel als neues, noch unbekanntes Werk des mysteriösen Autors Drifter erkennt.
„(…), der Titel lautete Elektrokröte. (…) Illustriert war es nicht mit einer Kröte, wohl aber mit einem kleinteiligen elektrischen Schaltkreis, wie aus dem Inneren eines konventionellen HiFi-Verstärkers, fotorealistisch gemalt.“
Das Fantasievolle und Spielerische in der Beschreibung von Details sind bei der Lektüre auffällig. Der Text nimmt sich immer wieder Zeit für das Ausmalen und somit auch das Erzählen selbst. Die Gruppe um Vica betreibt eine Art Startup, bei dem nicht klar auszumachen ist, was genau ihr Geschäft ist. Diese Rätselhaftigkeit fasziniert auch Wenzel.
Ausgerechnet in seinem Elternhaus, einem Plattenbau, in dem auch Killer aufgewachsen ist, lässt die Gruppe sich nun nieder um ihren Firmensitz zu installieren und bezieht dabei alle Bewohner des Hauses empathisch mit ein. Trotz seiner Genervtheit durch die unaufhörlichen Veränderungen seines Alltags, ist Wenzel glücklich und stolz, dass er Teil dessen sein kann, weil er schon bald für Vicas Firma arbeitet.
Der Roman beschreibt die Vorzüge eines bequemen unaufgeregten Lebens: mit einem guten Freund auf den man sich verlassen kann und ritualisierten Alltagshandlungen, die Sicherheit geben.
Zugleich zeigt er mit phantastischen Einschüben die Möglichkeiten des Ausbruchs auf. Zuerst steht Wenzel den Tätigkeiten von Vica und ihrer Firma ablehnend gegenüber. Doch wird schnell klar, dass hier der romantische Twist, den wir aus vielen zeitgenössischen Erzählungen in Film und Literatur kennen, auserzählt wird: Nämlich, dass wir den Zauber in den kleinen Dingen des Lebens finden können, wenn wir nur wollen.
Es gibt Smartwatches aus Pilzen, einen anarchistischen Maskenball, viele interessante Nebenfiguren aus dem Plattenbau, die einem allesamt irgendwie bekannt vorkommen, als wären es die eigenen Nachbarn.
Die längeren und kürzere Dialoge im Buch sind lustig, oft absurd, immer lebensnah. Die Eigenheiten der Protagonisten sind liebenswert und nachvollziehbar: Wie zum Beispiel Wenzels Angewohnheit auf seinem Telefon Solitär zu spielen. Es kommt zu einer Situation, die ihn dazu verleitet, seine 100%-ige Gewinnstatistik zu zerstören (was bisher undenkbar für ihn war). Und er stellt fest, dass es nicht schlimm ist.
Das könnte platt sein, aber Ulrike Sterblich schafft schafft es auf eine charmante Art, dass es das nicht ist. Diese kleinen Ausbrüche sind lustig und fühlen sich beim Lesen groß an, sie sind es wahrscheinlich auch. Die liebevolle Zeichnung der Figuren und eine vor Ideen sprühende Ausstattung des Settings, geben uns genug Futter um selbst anzufangen zu spinnen.
Selbstermächtigung, Befreiung aus einem Gefühl des Ausgeliefertseins. Glück.
Eine andere Herangehensweise an das Leben, an den Kampf gegen die Windmühlen des Arbeitslebens, hierin gibt der Text seinen Leser*innen einen Schubs und Lust darauf sich ins Leben und in die Freund*innenschaften zu werfen. Wie Wenzel sträuben wir uns zuerst dagegen, doch dann kommt am Ende das große Feuerwerk.
Rowohlt, 2023, 290 Seiten, Hardcover
Ulrike Sterblich
Politologin und Autorin aus Berlin, lebt weiterhin in ihrer Heimatstadt, wo sie auch als Gastgeberin der Talk- und Lesebühne «Berlin Bunny Lectures» bekannt wurde. 2012 erschien ihr erfolgreiches Mauerstadt-Memoir «Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt», über das Wolfgang Herrndorf urteilte: «Zarter, liebevoller, staunender wurde selten eine Jugend, eine Stadt und beider Verschwinden beschrieben.» 2021 veröffentlichte Ulrike Sterblich ihr vielbeachtetes Debüt «The German Girl».