Wenn ich an meine Zunge denke, denke ich an meinen Kieferorthopäden, der meine falsche Zungenhaltung kritisiert. Oder ich denke an meine kindliche Angst, ich könnte mir beim Springen von der Schaukel die Zungenspitze abbeißen. Florian Werner denkt bei der Zunge an einen popkulturellen Provokateur und ein historisch unterschätztes Organ und widmet ihr deshalb ein ganzes Buch. Werner geht sogar noch einen Schritt weiter und liefert einen Alternativbegriff zum Anthropozän, das von Menschen bestimmte Zeitalter: “Der Mensch erscheint im Glossozän. Wir leben im Zeitalter der Zunge”.
Beim Lesen ergibt sich zunächst die Frage, um was für eine Art Buch es sich überhaupt handelt. Hanser Berlin bewirbt das Buch als Portrait und so liest sich Die Zunge auch. Bisweilen fühlt sich die Lektüre jedoch an wie eine auf Buchlänge gestreckte Kolumne oder ein zu lang geratener Essay an. In jedem Fall ist Werners Ansatz humoristisch.
Der Autor Florian Werner ist bekannt für seine unterhaltsamen Auseinandersetzung mit nischigen Themen. So schrieb er beispielsweise 2009 ein Buch, das er ganz der Kuh widmete. Auch Raststätten und die Stadt Stuttgart sind in seinem Interessengebiet enthalten. Sein Buch Die Zunge, wurde 2023 in der Kategorie Sachbuch für den Bayerischen Buchpreis nominiert, und überzeugt die Jury mit seinen scharfen Beobachtungen zur Zunge als kulturell bedeutsames Organ.
Es gelingt Werner mit seinem leichtfüßigen Ton und bildlichem Schreibstil, in neun Kapiteln über sämtliche Funktionen und Eigenschaften der Zunge zu referieren und dies mit zahlreichen popkulturellen Beispielen zu unterfüttern.
Schmecken, Sprechen, Küssen, Lecken – die Zunge kann so einiges. Werners wagemutiger Text ist, bei aller Begeisterung für das unterschätzte Organ, jedoch immer wieder langatmig und die Assoziation bisweilen abwegig. So statuiert Werner über das Zungenküssen: “[…] die Zunge, die sich wie ein hungriges Amphibium in den schlüpfrigen Abgrund schiebt.”
Die Hommage an dieses durchaus wichtige Organ, würde auch ohne die bisweilen künstlich aufgeladene Symbolik auskommen, oder zumindest an mehr Ernsthaftigkeit gewinnen. Immer wieder beschreibt er die Zunge als unzuverlässig, als selbstlos und als Hüterin des Höllenschlunds. Dieses Framing braucht der Text eigentlich nicht, denn einige der angeführten Beispiele sind durchaus interessant.
Der finnische Entstehungsmythos über die Kuh und ihre Zunge, die die Welt und schließlich auch den ersten Menschen vom Eis befreit, zum Beispiel. Oder auch die Beschreibung der Festnahme des Diktators Saddam Hussein, die Anfang der 2000er im Fernsehen übertragen wurde und zeigt, wie dem Diktator vor der Weltöffentlichkeit von einem Arzt in den Mund geschaut wird. In solchen konkreten Situationsbeschreibungen liegt die Stärke des Autors.
Nach dem Lesen bleibt der Eindruck, das Florian Werners Argumentation oft als Rechtfertigung für sein Buch Die Zunge dient. Genauso assoziativ und spielerisch wie der Schreibstil ist auch der Aufbau des Buches. Für ein Sachbuch lernen die Lesenden zu wenig über die Anatomie und Biologie der Zunge, wer jedoch bei der nächsten Dinnerparty mit ein paar lustigen Facts über die kulturgeschichtliche Einordnung der Zunge punkten möchte, der hat mit Sicherheit Vergnügen.
Hanser Berlin, 2023, 224 Seiten, Hardcover
Florian Werner
Florian Werner, 1971 geboren, ist promovierter Literaturwissenschaftler und Autor. Er schreibt erzählende Sachbücher und Prosa, lehrt an der Hochschule der Künste in Bern und arbeitet für den Hörfunk. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Bei Hanser Berlin erschien zuletzt “Die Raststätte. Eine Liebeserklärung” (2021). Er lebt mit seiner Familie in Berlin.