tiefe
© Alexander Schuchmann

Kannst du mir ein Gefühl beschreiben oder die Tiefe

Präambel

Um für sich sorgen zu können, muss man wissen, was das ist, worauf man sich bezieht. Um die Fürsorge anderer annehmen zu können, muss man wissen, worauf sie sich bezieht. Von wem ist die Rede, wenn es um das Ich geht? Wer ist gemeint, wenn sie Du zu mir sagen?

    Der Unterschied zwischen Depression und Einsamkeit besteht darin, dass man bei Ersterem nicht mal mehr sich selbst als Gesellschaft hat.

Teil 1 – Theorie

Das Gute

Jemand lacht, laut und unbeschwert. Es riecht nach Softdrinks, Schweiß und Käsebrot aus Vesperboxen. Ich liege in einem Jugendherbergsbett, die Decke bis zum Bauch hochgezogen, den Blick auf das Bett über mir gerichtet. Außer mir ist niemand in diesem Zimmer. Die anderen sind alle nebenan. Als ich ihre Stimmen höre, schließe ich die Augen.

    Von außen betrachtet fällt diesem Körper das Aufstehen ganz leicht. Noch ist er sportlich, noch ist er jung – gerade mal zwölf Jahre alt. Er springt geradezu aus dem Bett, verlässt das Zimmer und gesellt sich zu den Lachenden. Er klopft nicht an, sondern platzt rein, erzählt einen Witz, der erst die anderen und dann ihn selbst zum Lachen bringt.

    Ich versuche, nicht zu weinen. Manchmal fällt mir das schwer. Eine Schwäche, die ich mit Willenskraft bekämpfe. Die Kontrolle über meinen Körper gehört immer noch mir! Ich verschränke meine Hände auf der Brust. Die Wärme macht den Schmerz erträglicher. Er sitzt genau unterhalb des Brustkorbs, an der Stelle, die einem in die Seite sticht, wenn man zu schnell rennt. Zumindest glaube ich, dass er dort sitzt. Vielleicht ist es auch gar kein Schmerz. Kann sein, dass ich noch kein Wort kenne für das, was mich am Aufstehen hindert.

    Die Stimmen werden lauter. Jemand kommt ins Zimmer. Im Flur tuscheln die Unbeschwerten.

    „Ist er tot?“

    „Nein, er atmet noch.“

Ich lasse die Augen geschlossen, stelle mich schlafend. Obwohl ich die Blicke nicht sehen kann, spüre ich sie. Spüre auch, wie sie von mir ablassen, als die tiefe Lehrerstimme meine Klassenkamerad*innen zu Bett schickt. Widerwillig schlurfen die Kinderfüße über den Boden.

    „Er sieht aus wie im Sarg.“

Sie lachen, leise und unbeschwert. Fast so, als hätte ich einen Witz erzählt.

In seiner erstmals 1903 erschienene Principia Ethica beschäftigt sich der englische Philosoph G. E. Moore mit der Definition des Wortes gut. Unter anderem stellt er sich die Frage, wie man jemandem die Bedeutung von gut erklärt, der sie nicht ohnehin schon kennt. Er streift dabei die alte philosophische Frage, ob es denn möglich sei, einer blinden Person Farben zu erklären.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Alexander Schuchmann | Pfeil und Bogen