Gemma Habibi - Roberto Prosser
Gemma Habibi - Roberto Prosser

Robert Prossers „Gemma Habibi“ – eine Boxkarriere in der Krise

Gemma Habibi ist der fünfte Roman des Wiener Autors Robert Prosser und präsentiert im Prolog zunächst einen reinen Boxroman – ich werde sofort mitten in ein heftiges Sparring hineingeworfen. Lorenz, der Protagonist, ist am Taumeln. In der Pause schmiert ihm sein Trainer eine adrenalinhaltige Creme auf den Rücken. Wie ist er hierher gelangt? Wer ist sein Gegner? Wird er gewinnen? Das sind die Fragen, die dieser Prolog stellt und bildet so einen packenden Einstieg.

Nur durch den inneren Monolog, der aus locker verbundenen Parenthesen besteht oder auf ganze komplett verzichtet – „Nervosität, Vorfreude, kribbelige Mischung, mein Körper muss warm werden, mein Kopf kühl bleiben“ – erzeugt Prosser eine packende, kurzatmige Atmosphäre. Lorenz Gedanken rattern, rasen, der Schreibstil saugt hier und da kleine Details auf und vermittelt, wenn überhaupt, einen filmrissartigen Eindruck vom jeweiligen Ort des Geschehens. Ob dies die Wahrnehmung eines Boxers treffend repräsentiert, weiß ich nicht. Aber ich glaube es sofort.

Diese Kurzatmigkeit im Textfluss wirkt sehr authentisch. Auf zu viele Adjektive verzichtet Prosser nicht nur in diesen Passagen – er schreibt auf den Punkt. Er schafft es, zumindest bei mir, eine Begeisterung für den Boxsport zu entfachen, die ich als Neuling auf dem Gebiet des Boxromans beim Lesen erst mal nicht erwartet hätte. Und er tut dies alles, ohne diesen Sport oder die unterschiedlichen Ideologien dahinter unnötig zu heroisieren.

So weit, so gut – der Boxplot bildet zusammen mit Lorenz Entwicklung hin zu einem Karriereboxer inklusive Staatsmeisterschaft einen roten Faden durch die Handlung, ohne auf Höhepunkte und Rückschritte zu verzichten. Und dieser rote Faden rettet letztendlich für mich das, was an Handlung noch übrigbleibt: lose zusammenhängende Subplots, die sich überall und nirgendwo aufhalten, ohne mit der Haupthandlung zu einem großen Ganzen zusammenzufinden.

Wobei „Haupthandlung“ hier subjektiv ist. Welcher Plot diese Rolle einnimmt, kann man nämlich frei entscheiden. Es läuft aber auf dasselbe hinaus: Ob man den Boxepisoden mehr Bedeutung zumisst als Lorenz Trip nach Syrien – wo er auf den Geschmack des Boxsports kommt – den Etappen einer Flüchtlingskrise in Wien oder einer unterentwickelten Beziehungsgeschichte mit der Fotografin Elena – das muss man selber entscheiden.

Die thematisch sehr unterschiedlichen Plots des Romans unterbrechen sich, stören sich gegenseitig, nehmen sich wichtigen Platz weg, wollen nicht miteinander harmonieren. Boxen, Flüchtlingskrise, Reiseberichte, Romantik, all das wird nicht genug ineinander verwoben, viel mehr kapitelweise durcheinander abgearbeitet. So ergibt sich, dass ich mich nach dem Ende jedes Kapitels immer wieder aus einem Flow herausgerissen fühle und kurz stutzen muss. Als Sammlung von Kurzgeschichten wäre dieses Nebeneinander von Plots okay. Wenn es mehr als nur einen Protagonisten geben würde, auch. Aber als kohärenter Roman scheitert das Buch an den zu selten bewussten Berührungspunkten der Episoden.

Wieso bspw. springt die Handlung von dem Höhepunkt einer Demo plötzlich mitten in eine Kuschelrunde mit Freundin Elena? Lorenz scheint häufig nur dabei zu sein, während all diese Dinge passieren und bleibt als Charakter letztlich dadurch blass. Mir stellt sich die Frage, warum sich Prosser nicht für einen seinen einzelnen Handlungssträngen entschieden und diesen vollständig entwickelt hat. Vielleicht, um seinem Boxroman durch das hochaktuelle Flüchtlingsthema einen zeitgerechten Anstrich zu verpassen? Dieser Verdacht kann nicht ganz entkräftet werden.

Trotzdem sind ein paar der besten Szenen des Romans diese, in dem sich kulturelle Differenzen mit dem isoliertem Universum von Lorenz Bloxclub schneiden. Prosser gelingt es zum Beispiel mit folgender Szene, einen dieser Konflikte in Miniaturform darzustellen: Jo, Inhaber von Lorenz Boxverein, lässt er in einer Szene ein islamisches Mitglied rausschmeißen, das während eines Trainings provokant mit dem Koran herumwedelt. „Religion darf nicht über dem Sport stehen“, sagt er. Denn im Club geht es ums Kämpfen, um den Sieg, nicht mehr und nicht weniger.

Es ist eine unkomplizierte Geradlinigkeit, die im Ring herrscht, die Lorenz an diesem Sport fasziniert. Dort gibt es keine politische Unkorrektheit, Konflikte werden sofort und auf, könnte man sagen, gleichberechtigte Art gelöst. Ein sehr interessanter Denkansatz, allerdings nimmt dieser zu wenig Raum in der Handlung ein. Hier hätte man beide Themen gut aneinander reflektieren und somit zwei interessante Handlungsstränge miteinander verweben können. Dies geschieht jedoch nur andeutungsweise, indem erwähnt wird, dass Lorenz in einer Seminararbeit über kulturelle Konflikte in seinem Club schreibt.

Es zeichnet sich schon im Laufe der Handlung ab, aber letztlich bietet die Beziehung zwischen Lorenz und der Fotografin Elena nicht viel mehr als gelegentliche Ablenkung vom Boxplot oder den Reisen nach Afrika. Sie ist leider ein kleiner Schwachpunkt in der Handlung – irgendwie kam bei mir das Gefühl auf, dass Elena als Figur vor allem dazu dient, Lorenz Schicksal mit der Flüchtlingskrise und anderen humanitären Notlagen zu verknüpfen, oder ihm schlicht einen Grund zu liefern, den Ort zu wechseln. So reist er ihr beispielsweise in Syrien und Ghana hinterher, aber beide machen dann sowieso ihr eigenes Ding.

Die Beziehungsausführung selber beschreibt der Autor lebendig und nachvollziehbar mit Sätzen wie: „bei Elena fühle ich mich mit jeder Faser gefordert, fast wie im Boxen scheint es immerzu möglich, in eine Situation großer Intensität zu gelangen.“ – ihr Verhältnis ist zwar im Ansatz interessant, aber der Autor scheint selbst wenig Interesse daran zu haben, diesen weiter zu erforschen und so wirkt dieser Plot am Ende bedeutungslos auf die Handlung und Lorenz Charakter. Ich denke auch hier, dass dieser einzelne Plot noch dichter bei übrigen Episoden hätte erzählt werden sollen, um für die Gesamthandlung relevant zu sein.

In seinen besten Momenten liest sich der Roman also spannend und die Seiten fliegen dahin, was dem bildhaften und einer Performance gleichem Schreibstil zu verdanken ist. Dann aber wird die Handlung, in die man im Moment versunken ist, von einem der Subplots unterbrochen, die thematisch nicht alle zusammen harmonieren wollen.

Gut aber, dass die Überzahl an Plots zumindest für sich genommen gelungen sind. Auf Lorenz Reisen nach Afrika schafft der Autor authentische wirkende Eindrücke fremder Kulturen, die er mit feinen Details würzt. Die Flüchtlingskrise 2015 wird z.B. anhand von ausschreitenden Demos und anderen Beispielen nachvollziehbar aus der Perspektive eines Dritten beschrieben. Und wem das alles nicht gefallen sollte, der meldet sich dank der Boxepisoden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Anschluss an die Lektüre im nächsten Boxclub an.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Ullstein Buchverlage