Märchenwelten

Die Welt der Märchen erschöpft sich nicht in den Tiefen des Brunnens, in den die Königstochter einst ihren goldenen Ball fallen ließ.

Der klassische Begriff Märchenwelt erscheint verbindlich, einleuchtend. Und die Recherche widerspricht nicht:

Wortbedeutung/ Definition:

  1. Welt mit Phänomenen, die nur im Märchen vorkommen
  2. sehnsüchtig betrachtete, unerreichbare Lebensumstände1

Aber wie es sich eben hat: Die Bedeutung eines Begriffs liegt wesentlich in dessen Gebrauch.

Sich diesen Umstand zunutze machend, soll im Kommenden eine alternative Märchenwelt zur Erscheinung gebracht werden, deren Darlegung auch wesentlich Ausgrabung bedeutet. Diese Welt, in der Märchen tatsächlich noch welthaft waren, ist die der Grimms.

Sie liegt, so könnte man sagen, verschüttet unter den Trümmern der neueren Geistesgeschichte. Noch der heutigen Fantasy-Literatur — die als eines der erfolgreichsten Genres wesentlicher Bestandteil dieser Geistesgeschichte ist — begegnen wir mit beträchtlich weniger Widerstand, als ihn die Grimmschen Märchenerzählungen in uns hervorrufen. Sie scheint uns paradoxerweise näher zu liegen, uns in einer diffusen Art mehr zu entsprechen. Paradox ist das insofern, als einerseits immer unwahrscheinlichere Inhalte in die sich stetig fortschreibende Genealogie der Schockeffekte eingereiht werden, diese andererseits aber immer verträglicher für unseren zunehmend naturwissenschaftlichen Weltzugang sind. Hieran ist leicht abzulesen, dass die Bruchkante von Märchen- und Fantasy-Literatur eben nicht im Übernatürlichen liegt, von der etwas veraltet scheinenden Königsherrschaft im souveränen Staat, der nach wie vor ein beliebtes Setting darstellt, einmal ganz abgesehen.

Mehr als zwei Jahrhunderte ist es her, dass die Grimms ganz im Bewusstsein der Romantik und des dieser entsprechenden Weltzugangs ihre Märchenerzählungen versammelten. Und obwohl ihre Niederschrift die Hochphase jener Märchen-Literatur im eigentlichen Sinne bedeutete — war ihr Inhalt zuvor bis auf ein paar Ausnahmen für eine unübersehbare Zeit im europäischen Raum oral tradiert worden —, lag ihr Ende kaum weiter, als ein gefülltes Tintenfass die Feder übers Papier trägt. Hierin scheint der eigentümliche Grund dafür zu liegen, dass uns mehr als ihre schiere Fantasterei von der Welt der Märchen trennt. Ihr Ort ist heute zerrissen durch die Spanne jener Zeit, die ihn als historischen Ort kenntlich macht, und mit ihm die Welt der Märchen als eine wesentlich vergangene.

Wie alle Literatur zehren auch die Märchen davon, nicht in ihrer Verschriftlichung aufzugehen. So liegt der Gedanke nicht fern, dass auch die Brüder Grimm selbst mit mehr befasst waren, als mit Nutzung und Bedeutung einer vermeintlich technischen Sprache, die heute als ein wesentlicher Zugang zum systematischen Erforschen von Märchen erscheint.

Bereits in der Vorrede zum ersten Band der Kinder- und Hausmärchen (1812-15) begreifen die Grimms sich in einer Situation, in der „alle erlangte Bildung, Feinheit und Kunst der Sprache zu Schanden wird, und wo man fühlt, daß eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem andern seyn mag, heller und durchsichtiger aber auch schmackloser geworden, und nicht mehr fest an den Kern sich schließe.“

Analog entgehen uns heute Elemente, die der Grimmschen Märchenbetrachtung so eigen waren, wie der Dialekt der Erzählung selbst, bevor sie mehr oder minder grapholektisch literalisiert wurde. Schließlich kommt der Sammelnde nicht umhin, den Gegenstand seiner Verehrung (ob Märchen oder Briefmarken spielt hier weniger eine Rolle) als bedeutsam und werthaft aufzufassen und ihn durch keinen anderen ersetzt wissen zu wollen.

Es gestaltete sich das Grimmsche Sammelsurium nicht nur als Schaukasten, sondern auch als Grundlage einer reichen Märchentheorie. Denn was die Grimmsche Kollekte zutage förderte, ist beeindruckend: die „Übereinstimmung der Erzählungen zeitlich und örtlich weit getrennter Völker“2. In ihrer Interpretation dieser Tatsache nehmen die Grimms vorweg, was im weiteren Verlauf der Märchenforschung und bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als anthropologische Theorie der Polygenese eingehen sollte: „Es gibt Zustände, die so einfach und natürlich sind, daß sie überall wiederkehren, wie es Gedanken gibt, die sich wie von selbst einfinden, es konnten sich daher in den verschiedensten Ländern dieselben oder doch sehr ähnliche Märchen unabhängig voneinander erzeugen“3.

Die mythologische Märchenforschung, die hier ihren Anfang nimmt — wenn sie auch im Verlauf der Geschichte mit Recht zugunsten anderer Theorien überdacht worden ist und im auslaufenden 20. Jahrhundert deutlich an Bedeutung verlor — ist elementarer Bestandteil der Geschichte der Märchenrezeption. Somit ist sie untrennbar mit der Wahrnehmung im Grimmschen Kosmos verbunden, mit der Welt der Märchen.


In den Anmerkungen der Edition von 1856 heißt es: „Gemeinsam allen Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinauf reichenden Glaubens, der sich in bildlicher Auffassung übersinnlicher Dinge ausspricht. Das Mythische gleicht kleinen Stückchen eines zersprungenen Edelsteins, die auf dem von Gras […] überwachsenen Boden zerstreut liegen und nur von dem schärfer blickenden Auge entdeckt werden. Die Bedeutung davon ist längst verloren, aber sie wird noch empfunden.“


1 https://www.wortbedeutung.info/Märchenwelt/

2 Lüthi: Märchen. 2004, S. 64.

3 Grimm, 1856.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Milena Maren Röthig | Pfeil und Bogen