Die Welt der Märchen erschöpft sich nicht in den Tiefen des Brunnens, in den die Königstochter einst ihren goldenen Ball fallen ließ.
Märchen
Was ist Perspektive? Rein technisch können wir darunter die räumlichen Dimensionen verstehen, die in einer visuellen Abbildung zum Tragen kommen: Dies können Fluchtpunkte, Dreidimensionalität und Größenverhältnisse sein, in ihren Maßstäben akkurat erfasst wie in einem architektonischen Entwurf für den Bau eines Hauses – gewissermaßen eine visuelle Tatsachenbeschreibung.
Der Tisch ist ein bisschen niedriger als ein normaler Esstisch, weil der Sessel niedriger ist als ein normaler Holzstuhl und meine Gäste sich nicht fühlen sollen wie Kleinkinder an einem Tisch für die Großen. Wenn man auf dem Sessel sitzt, geht der Tisch einer Erwachsenen etwa bis kurz über den Bauchnabel. Meinen Computer mit der Audiosoftware Reaper und meinen Kopfhörern habe ich an die kurze Seite des Tisches gestellt, so dass Abstand zwischen mir und meinen Gästen besteht.
Bevor es los geht, sammeln wir nicht nur unsere Kräfte, sondern gleich uns selbst. Wir versammeln uns, um der Liturgie zu folgen oder der säkularen Lesung. Das Wort wird gesprochen und wir hören zu, konzentrieren uns auf das Spiel zwischen Syntax und Semantik. In diesem Raum des Dazwischen findet Verständnis statt.
Wir SAMMELN wie die Märchensammler*innen, wir beschreiben ÜBERNATÜRLICHES, als wäre es das Natürlichste der Welt, wir erkunden LEERSTELLEN, nehmen PERSPEKTIVWECHSEL ein und brechen mit Regeln und Normen in MÄRCHENWELT(EN).
Sie trug ein langes Sommerkleid, das ihre Fesseln umspielte, als sie die Treppen hochstieg. Und eine Sonnenbrille im Haar. Wie die Models aus den Illustrierten.
Sie wohnten im ersten Stock. Über ihr. Und sie wusste, wann ihr Wecker klingelte, wann das Baby schrie, wann sie Besuch kamen und wann sie sich liebten. Das alte Haus mit den hohen Decken verheimlichte nichts.
Nun trug es sich aber zu, dass die Frau Gegenstand einer Verwaltungsangelegenheit wurde. Der Wagen der Hexe stand auf einer Waldlichtung und wenn in der kälteren Jahreszeit den ganzen Tag der Regen auf das Wagendach trommelte und in der frischen Regenluft der Wind kräftig durch die undichten Fenster pfiff, dann war es ihr in dem dämmrigen Raum sogar behaglich.
Das Märchen sublimiert die Gestalten der Welt zu reinem Sinn — die Verworrenheiten des alltäglichen Daseins, das innere Hadern, das ausschweifende Beobachten, das sich im nächsten Moment selbst Einhalt gebietet und spurlos übergeht in wichtigere Tätigkeiten — all diese Intermezzi, die nicht wirklich in unsere Unternehmungen einzugreifen scheinen, bleiben im Märchen entweder einfach unerzählt.
Wieder einmal sitze ich hier in dieser dunklen, modrigen Wohnung und höre zu. Wieder einmal sitze ich hier auf dem wackligen Holzstuhl, einen Füllfederhalter zwischen meinen Fingern und ein Notizbuch auf meinem Schoß. Wieder einmal höre ich mir eine Geschichte an, eine, die bislang mehr traurig als spannend ist.