Das unsichtbare Schloss

Nun ist es schon ein Jahr her, seit ich Nino kenne. Ein ganzes Jahr. Wir haben uns im Mai zum ersten Mal getroffen. An einem Tag, der stürmisch an den Fenstern rüttelte. Die Vögel am Himmel kämpften sich voran und die Bäume hielten an ihren jungen Blättern fest, damit der Wind sie nicht rupfen und forttragen konnte. Für meinen Schulweg brauchte ich zehn Minuten. Jedenfalls an anderen Tagen. An diesem Tag, von dem ich erzähle, kam ich nie bei der Schule an…

An jenem Tag wurde ich, noch bevor ich die Haustür öffnete, von unserer Katze aufgehalten. Sie wollte mich jeden Tag davon abhalten, in die Schule zu gehen. Dann schlich sie mir schnurrend um die Beine und forderte mit ihren großen, sanften Katzenaugen, dass ich sie am Bauch und hinter den Ohren kraulte. Doch an diesem Tag, wollte sie nur kurz gestreichelt werden. Dann stupste sie mit ihrer Nase meine Hand und ging zur Tür. Als wolle sie sagen: Du musst jetzt los. Heute ist ein besonderer Tag.

Auf den Straßen war kein Mensch. Viel zu grau waren sie, viel zu grau war der Himmel. Der Wind brauste, als erzähle er Schauergeschichten. Obwohl ich spät dran war, ließ ich mir Zeit. Ich hatte es nicht sonderlich eilig, in die Schule zu kommen…

Als ich an der großen Bahnhofsuhr vorüber lief, zeigte sie fünf vor acht. Noch fünf Minuten also, dann würde die Glocke schellen und der Unterricht beginnen. Ich stellte mir vor, dass die Straßen deshalb so leergefegt waren, weil die Schule ausfiel. Im Winter passierte das manchmal, wenn der Schnee so hoch lag, dass die Straßen gesperrt waren oder im Sommer, wenn die Sonne so warm vom Himmel strahlte, dass alle in der Klasse unaufmerksam waren und sehnsüchtig nach draußen blickten. Weshalb sollte nicht auch einmal im Mai die Schule ausfallen? Während ich träumend weiterlief, klimperte etwas unter meinen Schritten. Mein Fuß war gegen einen Schlüssel gestoßen, der auf dem Boden lag. Ich hob ihn auf und strich mit einem Finger darüber. Es war ein alter Schlüssel, der schon ganz verrostet war. Und während ich ihn in meiner Hand drehte, überlegte ich. Wem mochte der Schlüssel gehören? Einer Person vielleicht, die ihren Zug erwischen wollte und ihn in der Eile verloren hatte? Was, wenn nun aber diese Person, der der Schlüssel gehörte, auf einer Dienstreise war und spät in der Nacht erst nach Hause zurückkommen würde? Wie sollte sie in ihr Haus gelangen? Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste die Person finden. Natürlich konnte ich nicht am Bahnhof bleiben und stillsitzen, bis sie von wo auch immer zurückkam. Was, wenn sie in den Urlaub gefahren war und erst in einer Woche zurückkehrte, oder in zwei oder drei? Es blieb also nur eine Möglichkeit: Ich musste das Haus finden, das zu dem Schlüssel passte, und an der Tür einen Zettel mit meiner Adresse hinterlegen. Dann konnte die Person den Schlüssel ganz einfach bei mir abholen.

Ich machte mich auf den Weg. Es war aufregend, durch fremde Gärten und Einfahrten zu spazieren, doch fühlte ich mich ein wenig allein. An der Tür eines jeden Hauses, das verlassen schien, probierte ich den Schlüssel. Die meisten Schlösser waren eigenwillig und der Schlüssel ließ sich nicht einmal hineinstecken. Bei anderen gelang mir das zwar, aber der Schlüssel blieb stecken und ließ sich nicht drehen. Während ich wie eine einsame Katze durch die Straßen strich, war ich behutsam und leise und froh über das Grau des Himmels und den Nebel, der mich vor Blicken aus den Fenstern versteckte. Oh wie war es gut, in einer Kleinstadt zu leben, die mehr Bäume hatte als Häuser. Aber auch nach stundenlangem Suchen fand ich nichts. Es schien, als würde kein einziges Schloss in der ganzen Stadt zu dem alten Schlüssel passen. Die Sonne wurde milder und sank in ihr Bett aus Baumkronen und die Schatten wurden lang. Ich saß auf einer Bank am See, als ich im Augenwinkel einen Schatten bemerkte.

“Kann ich da auch sitzen?“, fragte jemand. Vor mir stand ein Kind, das kaum älter war als ich.

„Natürlich darfst du“, sagte ich. Und das war der Moment, in dem ich Nino zum ersten Mal traf. Sie setzte sich neben mich und dann begannen wir zu plaudern, so als kennten wir uns schon eine Ewigkeit und wären uns gar nicht fremd.

„Was hast du da?“, fragte sie.

„Es ist ein Schlüssel, der zu keinem Haus in der Stadt passt“, sagte ich. „Ich habe ihn überall probiert und nun weiß ich nicht, wie ich ihn der Person zurückgeben kann, der er gehört und die ihn verloren hat“.

„Hast du einmal daran gedacht, dass es auch ein Schlüssel für einen Schuppen sein könnte? Für ein Boot oder eine Schatztruhe?“

„Nein“, stellte ich fest.

„Und hast du einmal darüber nachgedacht, dass der Schlüssel zu einem Haus gehören könnte, das nicht aus dieser Stadt ist? Dass es ein Schlüssel von überall auf der Welt sein könnte? Vielleicht aus Panama oder Indien?“.

„Nein“, antwortete ich noch einmal.

„Wenn es in dieser Stadt kein Schloss gibt, das zu diesem Schlüssel passt, dann gehört er dir“, sagte Nino. „Denn es kann unmöglich jemand verlangen, dass du ihn an allen Schlössern der Erde ausprobierst“.

„Aber was soll ich denn mit einem Schlüssel, der in kein Schloss passt?“, fragte ich.

„Da findest du so etwas Tolles wie einen Schlüssel, der in kein Schloss passt und weißt nichts damit anzufangen“, lachte Nino. „Es ist das Größte, so einen Schlüssel zu finden. Mit ihm kannst du heute hier und morgen dort wohnen. Heute in Panama und morgen auf der weiten See und übermorgen auf dem fernsten Stern, den du am Himmel finden kannst“. Ich wurde neugierig. Nun sah ich, wie der Schlüssel in meiner Hand funkelte und wie aus ihm geheime Bilder sprangen. Plötzlich wurde mir klar, dass dieser alte Schlüssel das Schönste war, das ich je gefunden hatte.

„Schließ die Augen“, sagte Nino. „Und stelle dir ein Schloss vor, in das du den Schlüssel steckst. Und dann drehst du ihn, bis es knackt und sich die Tür öffnet. Und dann erzählst du mir, was du sehen kannst“.

Ich versuchte es. Ich schloss meine Augen und begann zu träumen. Erst sah ich noch den See und darauf das Spiegelbild von Nino und mir. Wie wir nebeneinander auf der Bank saßen und über unseren Köpfen die Bäume wogten. Dann sah ich nur noch blau und dann knackte es. Es war, als tauchten Nino und ich in den See ein. Tiefer, immer tiefer, bis unsere Füße auf den Grund stießen. Fische umschwärmten uns und wir konnten atmen unter Wasser und auf dem Grund laufen, ohne nach oben getrieben zu werden. In der Tiefe war es hell, als strahlte das Licht aller Sterne hinein. Eine alte Schildkröte schwamm an uns vorüber und erzählte uns, dass wir am Rande des Sees einen langen, langen Tunnel finden würden, der in den weiten Ozean führte und dass es von da aus nur ein Katzensprung bis nach Panama wäre…

Bilder mit freundlicher Genehmigung von © Jelena Kern und © Heidi Doesel