Lena Gorelik: Mehr Schwarz als Lila

Es beginnt mit dem Foto. Man sieht Alex und ihren besten Freund Paul, die sich küssen; dabei ist Alex in Johnny verliebt, der eigentlich Herr Spitzing heißt und Referendar für Deutsch und Geschichte ist, Paul aber in Alex. Als wäre das nicht schon kompliziert genug, geschieht das in der Gedenkstätte Auschwitz, direkt neben dem Galgen,  irgendwer fotografiert es, lädt es bei Twitter hoch: 12.357 Menschen retweeten es. Dann ist es plötzlich in den Zeitungen, alle reden darüber, dass die Jugend von heute die Gedenkkultur zerstöre, dabei ist es doch nur ein Kuss, und zwar einer, der vielleicht eine Freundschaft zerstört hat.

Bei einem solchen Schlagwortgekuschel zwischen Teenagerliebe, Auschwitz und dem Echo sozialer Medien kann man sich natürlich genüsslich für klüger halten. Wir erwarten Tränendrüsenszenen, in denen die Heldin mit dem trauerbeladenen familiären Hintergrund nun wirklich nichts für ihre Unbeholfenheit kann.  Wir erinnern uns an den Lehrer Nickel in Frauke Finsterwalders und Christian Krachts Film Finsterworld, der gefeuert wird, weil es so aussah, als habe er sich beim KZ-Ausflug an eine Schülerin herangemacht, dabei war das doch alles ganz anders.

Verstanden, denken wir, wollen das Buch weglegen. Ersteres: Haben wir nicht. Und letzteres: Können wir nicht. Es sind die Momente, in denen wir plötzlich mit Alex, Ratte und Paul im Dunkeln sitzen, uns gegenseitig 5-Minuten-Texte vorlesen. Es liegt am Ton, der unter all den wertenden Blicken und der Cyber-Empörung angenehm ruhig bleibt. An der glasklaren Widersprüchlichkeit der Gefühle, die sich nicht erklären und nicht erklären müssen. Dass man Liebe in der Rebellionsphase nicht neu erfinden muss, ist klar, aber neu erfahren kann man sie.

Es geht um all die Momente, die keiner retweetet. Die stillen, komplett bedeutungslosen zwischen den Bildern. Um das, was man jetzt aus all dem macht, in seiner eigenen Erfahrungsglocke. Das, was man nicht dem Cyberschwarm oder dem Jugendschwarm erzählt, oder irgendwem, sondern in sich weiterrumoren lässt. Wir sehnen uns heimlich zurück in diese Lebensphase der ätzenden Pubertät. Möchten noch mal mit den wenigen Verschworenen über Eltern, Geschwister und dieses Man-selbst-Sein reden. Wollen einander zum Zahnarzt begleiten und heimlich in den Referendar verliebt sein. Vielleicht mögen wir die drei Protagonisten, vor allem Alex, aufgrund des schleichenden Wunsches, wir wären mit 17 gewesen wie sie: selbstbewusst, ein bisschen über allem stehend, ohne uns damit Feinde zu machen, klug, schlagfertig. Natürlich hat sie Fehler, Zweifel, alles, aber das haben Holden Caulfield und Maik Klingenberg auch.

Es geht um all die Momente, die keiner retweetet. Die stillen, komplett bedeutungslosen zwischen den Bildern.

Lena Goreliks Mehr Schwarz als Lila auf eine Thematik festzulegen, ist nicht gerecht. Es geht um Freundschaft, Liebe, Verantwortung, um falsche und richtige Küsse und was sonst noch so zum Erwachsenwerden gehört. In die typischen Coming-Of-Age-Themen mischen sich Fragen wie ob Erinnern heißt, sich für einen Kuss einen anderen Ort, als die Gedenkstätte Auschwitz suchen zu müssen. Das Schöne daran: Trotz Holocaust-Thematik lässt uns der Roman nicht mit dem seltsamen Gefühl zurück, dass uns gerade ein erhobener Zeigefinger vor der Nase herumwedelte, so wie es beim Yolocaust von Shahak Shapira war. Dabei stellen beide Werke ähnliche Fragen. Ist das Holocaust-Denkmal ein Ort für Selfies? Ist ein Galgen in Auschwitz ein Ort für das Küssen? Shapira musste sich den Vorwurf der Ökonomisierung des Holocausts gefallen lassen. Der gleiche Vorwurf könnte bei Mehr Schwarz als Lila im Raum stehen, nicht etwa dadurch abgemildert, dass der Roman noch andere Themen hat, sondern verstärkt. Wir hoffen aber, das bleibt Lena Gorelik erspart. Weil Mehr Schwarz als Lila eben nicht belehrt. Weil es dieses Richtig nicht gibt, nur viele Varianten, von denen man sich für eine entscheiden muss. Lena Gorelik zeigt uns nur eine davon.

Lena Gorelik: Mehr Schwarz als Lila, Rowohlt Berlin 2017, 256 Seiten.

 

Bild mit freundlicher Genehmigung von Rowohlt Berlin