Wir wollen die Welt retten. Weil wir finden, dass diese Welt Rettung dringend nötig hat. Heute mehr als je zuvor. Wir sind zum Glück nicht allein mit dieser Meinung. Selbst auf dem in jüngster Vergangenheit so dystopisch bestellten Feld der Literatur haben wir einen Verbündeten gefunden: Andreas Stichmann. Mit seinem Roman Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk entführt er uns in eine alternative Kommune: den Sonnenhof.
Der Sonnenhof, diese verschlafene Wohnstätte der Verlierer und Verlorenen unserer Gesellschaft, liegt an der A23 in Hamburg-Ohlsdorf. Wie auf dem Mars sei es hier, findet Bibi, die neu ist, nur mit Pfützen und Mohnblumen und Löwenzahn. Bibi heißt eigentlich Bianca, aber Bibi klingt fresher. Diese Freshness bringt sie mit auf den Hof, nachdem sie aus Langeweile eine Tankstelle überfallen hatte und zu Sozialstunden verdonnert wurde, und die Sozialstunden beweisen ihr, dass sozial sein gar nicht so anstrengend ist.
Raffi, eigentlich Ramafelene, weiß das schon lange. Zumindest wusste er es schon mal, ist er doch in diese Weltverbesserungswelt auf dem Sonnenhof hineingewachsen. Deshalb liegt ihm das Weltverbesserungsgen im Blut, obwohl er und seine dauerpessimistische Mutter kurzzeitig vergessen hatten, was sie da eigentlich tun. Zum Glück für sie und für uns strandet auch David van Geelen am Sonnenhof-Beach. Er nennt sich Sydney Seapunk, ein Name für einen echten Weltveränderer, und bringt die positiven Vibes in Form von teuren Geschenken, kitschigen Collagen und Ratschlägen aus seinen E-Book-Ratgebern mit – und außerdem die Aussicht auf vier Millionen Euro in bar.
Damit entsteht das Problem, das wir alle kennen: GELD! Wir fragen uns beim Lesen, was wir damit alles machen könnten. Ja, für kurze Zeit vergessen wir die Vision einer gerechten Umverteilung, der Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände. Denn wir selbst haben uns schon lange keinen richtigen Urlaub mehr gegönnt. Eine neue Waschmaschine wäre auch sinnvoll, da müssten wir sonntags nicht immer die Nachbarn fragen. Vier Millionen Euro – wir müssten uns am Monatsende keine Gedanken mehr darüber machen, ob wir noch genug Geld übrig haben. Doch dann sehen wir den Sonnenhofbewohner Küwi vor uns, wie er enttäuscht in seinem türkisfarbenen T-Shirt, mit dem Gameboy und der selbstgebastelten Flagge mit dem Leitspruch »Up-the-Seapunk!« im Gang steht. Den kleinen Finger hat er zur Begrüßung in die Luft gereckt.
Wir besinnen uns auf das, was wir wirklich zu tun haben: Andreas Stichmann einen Brief mit dem Betreff »Küwi« schreiben. Die Punkte über dem ü und dem i wären Herzen, denn wir wollen mehr von Küwi, dieser herzzerreißend komischen Figur und ihrer berückenden Weltsicht. Und dafür etwas weniger Zerstreuung. Auf den 230 flott erzählten Seiten mit ihren ständig wechselnden Perspektiven kommen einfach zu viele Charaktere vor. Die sind zwar alle auf ihre eigene Art greifbar, aber in der Masse sprengen sie den Mikrokosmos. Es kollidieren allzu viele Visionen, Skurrilitäten, Kürzestphilosophien, Spitznamen, Familienhintergründe, Nebenschauplätze.
So viele, dass wir uns irgendwann fragen, wovon der Roman im Kern handelt. Ob er ernst oder satirisch gemeint ist? Was der Sonnenhof uns eigentlich über unsere Gesellschaft erzählt? Oder ob er als quasi-fantastisches Setting letztlich nicht doch nur auf sich selbst verweist? Mit »Küwi« als verrücktem Hutmacher im Sonnenhof-Wunderland lassen wir uns letzteres auch gerne gefallen. In Hinblick auf die großen, im Roman nur oberflächlich angeschnittenen Themen – Weltrettung, Änderung der bestehenden Verhältnisse – bleiben wir als Leser aber etwas ratlos zurück.
Andreas Stichmann: Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk. Rowohlt 2017. 240 Seiten.