Beim Gedanken an den Rückzug aus der modernen Medienwelt ist es nicht schwer, positive Visionen von einer Zuwendung zur Welt und dem Leben zu entwickeln. Jenifer Beckers Roman Zeiten der Langeweile erzählt jedoch die Gegengeschichte zu solchen Narrativen. Mila, unzufriedene Akademikerin, beschließt während der Corona-Pandemie sich aus dem digitalen Leben zurückzuziehen. Was sie sich zunächst als „eine Art Detox“ verkauft, wird allerdings schnell zu einem Angriff auf sämtliche digitalen Spuren ihrer Vergangenheit.
Mila beginnt nicht, mit nackten Füßen über feuchte Wiesen zu laufen. In einer neuen Abhängigkeit fixiert sie sich nun vollkommen auf ihre Löschung aus dem Internet, und kämpft sich dafür durch komplizierte, umständliche Verfahren. Denn „niemand wusste, zu welchem Zeitpunkt verschiedene Daten und Infos über mich zu einem Ball öffentlichen Interesses zusammenschmelzen könnten und ich in einem digitalen Inferno gelyncht werden würde.“
Aber je mehr potentiell bloßstellendes Material sie erfolgreich löscht, desto größer wird ihre Paranoia. Sie beginnt sich Sorgen darüber zu machen, dass durch die allgegenwärtige Handy-Fotografie neue digitale Abbilder von ihr ihren Weg ins Internet finden könnten, wenn sie unbemerkt als Passantin im Hintergrund auf Bildern landet. Und sie entwickelt die Fantasie, dass sich ein kleiner peinlicher Moment im Fitness-Studio zu einem viralen Internet-Phänomen entwickeln könnte, an deren Realität sie bald, trotz fehlender Beweise, glaubt. Sogar ihr Bruder, überzeugter Impfgegner, der um sein Haus einen „schulterhohen Maschendrahtzaun mit Sichtschutz“ hat errichten lassen, hält ihre Paranoia bald für übertrieben.
In ihrem restlichen Leben beginnen die Zeiten der Langeweile, in denen sie keinen Gewinn von Freiheit, sondern Verlust erlebt. Sie verliert den Überblick über das Leben ihrer Freundinnen und die Möglichkeit zur ständigen Mitteilung. Nie ist sie zufrieden, und immer findet sich ein weiteres Element des digitalen Lebens, von dem sie sich frei machen muss, bis sie irgendwann beginnt, sich vor Handystrahlung zu fürchten.
Dieser Sprung vom Besten zum Schlimmsten enttäuscht zunächst, denn was ist mit dem Bereich zwischen utopischer Fantasien des digitalen Ausstiegs und Milas Sturz in den Abgrund der Isolation? Jenifer Beckers Roman ist kein Selbsthilfe-Buch zum digitalen Ausstieg. Aber gerade durch die extreme Wendung ins Negative gelingt dem Roman eine differenzierte Betrachtung der Rolle digitaler Medien für das alltägliche Leben und Widersprüche des Diskurses darum.
Vielleicht braucht es dafür einen Charakter wie Mila, deren tiefgreifende Angst bloßgestellt zu werden sie dazu motiviert, sich durch die umständlichen Prozesse zur Löschung ihrer Accounts zu kämpfen und mit Suchmaschinen das Internet nach Spuren von sich zu durchforsten. Niemand mit einer gemäßigten Einstellung zu digitalen Medien würde so etwas unternehmen. Durch Milas Augen wird es dem Roman jedoch möglich, das digitale Leben genau und kritisch zu beleuchten.
Abschied von der digitalen Welt
Erst durch den radikalen Abschied von der digitalen Welt wird sichtbar, wie sehr sie ein Leben bestimmt hat. Plötzlich fühlt sich Mila von allen anderen Menschen separiert. Kaum noch informiert über aktuelle Politik und Popkultur fällt es ihr schwer, mit einstigen Freunden gemeinsame Gesprächsthemen zu finden. Ihr Versuch, sich von Social-Media zu befreien, wird zunehmend zu ihrer einzigen, nun hochgradig unfreien Identität.
Denn auch die Paradoxa dieser Situation werden sichtbar. Etwa wenn Mila sich von Social Media lossagt, aber weiterhin Youtube-Videos konsumiert. Youtube-Videos über den Social-Media-Ausstieg, produziert für die Selbstprofilierung und Verwertung auf Social Media. Unzufrieden damit, ihre neue Identität einzig auf dieser Anti-Position aufzubauen, welche sie von der Welt nur immer weiter entfent, bleiben Mila bald nur noch die Lebensformen zurückgezogener Künstlerpersönlichkeiten wie Emily Dickinson als Vorbild.
Lebensformen die, wie Mila sich vor Augen führt, auf enormen Privilegien basieren. Dickinson wurde in Reichtum geboren, Mila hat ihre akademische Karriere verfrüht aufgegeben. Wo soll sie noch sein, die gemäßigte Version des Rückzugs aus der digitalen Welt, und wer kann sich so etwas überhaupt noch leisten? Mit solchen Fragen eröffnet der Roman einen Diskurs, welcher über das individuelle Scheitern seiner Protagonistin hinausgeht.
Es ist einer solchen Funktion sicherlich zuträglich, dass Zeiten der Langeweile in einer durchgehend unaufgeregten, sachlichen Sprache daherkommt, die fast den Verdacht erregt aus dem Notizprogramm zu stammen, in das Mila an einer Stelle zur Befriedigung ihres Mitteilungsdrangs eine Art Tagebuch entstehen lässt:
„Nach der Zeitumstellung stellte ich meinen Wecker von acht auf sieben Uhr dreißig. Ich trank Tee im Bett, erlaubte mir meine zwei Artikel, um dann mein Telefon wegzulegen und zwei Stunden zu lesen. Danach suchte ich mir einen Meditationsclip auf Youtube raus, es wurde eine mehrtägige Challenge zur Shakra-Stärkung.“
Nach einer Weile beginnt diese Sprache mit einheitlichem Satzbau zu langweilen, womöglich ein literarischer Trick. Die Beschreibungen in Zeiten der Langeweile machen es aber auch möglich, die Entwicklung der Protagonistin im Detail nachzuverfolgen, alles was sie tut, und was dabei fühlt und denkt. Vor allem aber entsteht eine gewisse Resistenz gegenüber ideologischer Parteinahme, wozu auch Mila selbst einiges beiträgt: „Meine Motivation war weder transzendental-mystisch noch radikal-aktivistisch.“
In solchen Sätzen spricht die deskriptive Neutralität der Akademikerin aus ihr. Es ist vielleicht aber kein Schaden, dass so radikalen Positionen, welche das Thema „Ausstieg“ umranden, ein wenig der Wind aus den Segeln genommen wird und ein Roman über doch eigentlich tiefgreifende Fragen nicht nur sehr differenziert und kritisch, sondern auch reichlich unaufgeregt daherkommt.
Hanser Berlin, 2023, 238 Seiten, Hardcover
Jenifer Becker,
Jenifer Becker, geboren 1988, arbeitet als Autorin, Kulturwissenschaftlerin und bildende Künstlerin. Sie studierte Kreatives Schreiben am Literaturinstitut Hildesheim, wo sie seit 2015 lehrt und forscht. In ihrer Arbeit befasst sie sich mit Ambivalenzen digitaler Kulturen. Sie lebt in Berlin. Zeiten der Langeweile (2023) ist ihr Debütroman.