Vatermal, der Roman, der es beim Buchpreis 2023 auf die Shortlist schaffte, handelt vom Vermissen familiärer Nähe und der Suche nach den unausgesprochenen Konflikten. Er verortet sich stark in den Momenten des Dazwischen und behandelt die unumgängliche Frage nach dem Warum? Warum die Abwesenheit des Vaters des Protagonisten seit seiner Kindheit, warum der alles in dessen Leben überlagernde Konflikt zwischen Schwester und Mutter.
Dem Theaterautor Necati Öziri, der mit diesem Roman sein literarisches Debüt feiert, gelingt es mit dem Protagonisten Arda eine Figur zu erschaffen, bei der Mitfühlen auf einmal ganz leicht wird.
Fast schon liebevoll verbindet Öziri die verschiedenen Erinnerungen aus dem Leben der Mutter und Schwester, mit seinen eigenen. Aus der Sicht von Arda, welcher sich im Krankenhaus befindet, entfaltet sich seine Kindheits- und Jugendgeschichte. Durch die Besuche der Mutter und Schwester, ergänzt er die eigenen Erinnerungen mit den ihrigen und versucht die familiäre Geschichte in ihrer Gänze zu verstehen.
Von Anfang an adressiert Arda seinen Vater, wobei dieses Wort für ihn unmöglich auszusprechen, gar zu denken, scheint.
„Ich werde von mir erzählen, Metin, aber ich werde permanent lügen. Nichts stimmt, und doch ist jedes Wort wahr.“
Öziri zeichnet in Vatermal einen Vater, der nie wirklich Vater wurde, sondern für Arda immer Metin bleiben wird. Der, der die Familie viel zu früh verließ, weil er auf der Flucht vor den deutschen Behörden zurück in die Türkei ging. Der, der die Verantwortung für die beiden Geschwister, Arda und Aylin, an die Mutter abgab, die an ihren eigenen Problemen zu zerbrechen drohte.
So kommt es, dass Ardas ältere Schwester zu großen Teilen die Verantwortung für Arda übernehmen musste, auch wenn sie selbst in gewissen Episoden seiner Kindheit abwesend blieb. Immer wieder flieht sie vor der erdrückenden Beziehung zur Mutter. Flieht vor der viel zu großen Verantwortung, die ihr aufgebürdet wurde und versucht sich selbst zu retten, indem sie sich ein Stück ihrer Kindheit zurück erkämpft.
Was zur Folge hat, dass Arda in einer völlig zerrütteten Familie aufwächst und er sich auf die Suche nach einem alternativen Familienkonzept begibt. Er hält sich an Bekannte seiner Eltern und findet einen Freundeskreis, der viele seiner Erfahrungen teilen kann. Themen wie Flucht- und Migrationsgeschichte spielen eine fundamentale Rolle. Auch das komplexe bürokratische Einbürgerungsverfahren in Deutschland wird immer wieder beleuchtet.
Öziri wirft in Vatermal fast beiläufig und zwischen den Zeilen, die rassistischen und stereotyp-basierten Diskriminierungserfahrungen Ardas ein. Wie in Beschreibungen des „akzentfreien Ichs“, mit dem Arda sich Beamten und Autoritätspersonen gegenüber Respekt verschaffen kann.
Neben den komplexen und emotional aufwühlenden Momenten sticht in Vatermal besonders der sprachliche Stil hervor.
Es wird eine Sprache gezeichnet, die mitwächst, sich wandelt und situativ anpasst. Eine Sprache, die literarisch zugänglich ist, die sich umgangssprachlichen Begriffen bedient und dennoch lyrisch ist.
„Erzählen ist wie Wasser, Metin, einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst.“
Wer bereit ist, sich auf komplexe Familiendynamiken und einfühlsames Erzählen einzulassen, erhält hier einen gesellschaftlich und politisch relevanten Roman, der an vielen Stellen zur Identifikation einlädt und an anderen für Aufklärung sorgt.
Claassen, 2023, 304 Seiten, Hardcover
Necati Öziri,
Necati Öziri, geboren in einer der vielen grauen Ecken des Ruhrgebiets („Hölle Hölle Hölle!”), hat Philosophie, Germanistik und Neue Deutsche Literatur in Bochum, Istanbul und Berlin studiert. Er lebt in Berlin sein drittes Leben, schreibt, macht Theater und manchmal einen auf Intelelli, wofür ihm sein sechzehnjähriges Ich wahrscheinlich eine Schelle verpassen würde. In seinen Texten ist natürlich alles wahr. Öziri war Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung und unterrichtete an der Ruhr-Universität Bochum formale Logik, bis er feststellte, dass Logik die Welt nicht besonders gut beschreibt. Seitdem versucht er zu schreiben, nicht wie die Welt ist, sondern wie sie sich anfühlt. Er ist erbitterterer Feind von Kälte, Lactose und Kurz-Biographien.
Als Theaterautor schreibt er für das Maxim Gorki Theater, das Nationaltheater Mannheim und das Schauspielhaus Zürich. Öziri trifft sich regelmäßig mit alten Versionen seiner selbst, sie sitzen in Schulheften voller Kaffeeflecken herumblätternd auf dem Boden von Ämtern und warten (worauf eigentlich?) oder sie chillen auf Bänken am Bahnhof und bieten ihm einen Joint an. Bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur (Ingeborg-Bachmann-Preis) gewann er den Kelag-Preis und den Publikumspreis. Als Kurator leitet er zudem das Internationale Forum des Theatertreffens der Berliner Festspiele. Bei Wut und anderer Erregung dunkelrote Färbung der Ohren.