Gherasim Luca:
Mein Wahnsinn des Lebens
(Das Körperecho. Lapsus linguae)
Wir lasen und hörten Gherasim Luca. Denn dieser Dichter sagte von seinen Gedichten, dass man sie unbedingt hören und nicht bloß lesen sollte. Vom Surrealismus begeistert, baute er etwas traumhaft Übersteigertes in seine Gedichte, und als ehemaliger Stotterer auch das Stottern ein. Wir lasen ›Ma déraison d‘être‹ (›Mein Wahnsinn des Lebens‹) langsam zusammen und diskutierten in kleinen Gruppen:
»die Verzweiflung hat drei Beine
die Verzweiflung hat vier Beine
vier paar luftiger vulkanischer aufsaugender symmetrischer Beine …«
Gherasim Luca: Mein Wahnsinn des Lebens
(Das Körperecho)
Danach schrieben wir:
Angelina Klempert
Uns und nie
Räume stoßen aneinander. Aneinander die schlagenden Fenster, die krachenden Türen. Türen ins Oben. Oben ins Unten. Unten ins Bodenlose. Bodenlose Grenzen. Grenzen eines Körpers, dessen Raum uns bindet – der Rausch, die Rage, die Ruhelosigkeit. Ruhelosigkeit, dafür haben wir lange nicht mehr die Geduld. Geduld für die Räume. Räume stoßen aneinander. Aneinander reiben wir uns ab. Ab die Haut meiner Sohlen, irgendwann werde ich nicht mehr stehen können. Können wir noch sitzen. Sitzen zwischen den Aufsprüngen. Aufsprüngen. Aufsprüngen, dazwischen Halt. Halt ohne Körper. Körper im Innehalten zwischen den Konstruktionen. Konstruktionen, derer wir uns nie entledigt haben. Haben, haben wir. Wir haben manchmal so getan, als würden wir etwas tun. Tun wir gar nichts von dem, was wir wollten. Wollten versucht haben. Haben uns. Uns und nie. Nie zwischen den Räumen.
Show more +Antonia Kammerer
Verzweiflung
Zweifel sind da. Immer.
Ich verzweifle mich zwischen zwei Zweifeln,
drei Zweifeln, mehr und mehr Zweifeln
und dann spüre ich sie, wie sie alles überrollt,
alles Verzweigte, Verzwickte, Verstrickte, Vergeigte.
Aus vielem Verzweigten vereinigt sich eins –
Verzweiflung.
Verzweiflung ist da.
Ich zweifle, ob es Verzweiflung ist,
ob es die eine Verzweiflung ist,
in der mich alles verlässt, verletzt, versetzt, verätzt,
die allein ist, nur eins ist, nichts anderes zulässt …
Ich zweifle, ob da nicht doch noch was ist,
etwas Leises, etwas Geheimes, etwas Zweites.
Zweifel sind da.
Immer.
Charlotte Palatzky
Ein Wahnsinn des Zusammen
die deliberation hat drei gleichlange seile
die deliberation hat vier gleichlange seile
vier gleichlange trübe brennende stützende
stehende seile
sie hat fünf gleichlange seile fünf stehende unterschiedliche
oder sechs gleichlange trübe brennende seile
sieben ungleichlange seile
die deliberation ist ein seil
ein absolut einzelnes gleichlanges seil
ist überhaupt nie ansatzweise auch nur ein seil
Daniela Waßmer
die erinnerung hat drei paar köpfe
die erinnerung hat drei paar köpfe
die erinnerung hat vier paar köpfe
vier paar dunkler medusenhafter blendender
symmetrischer köpfe
sie hat fünf paar köpfe fünf symmetrische paar
oder sechs paar dunkler medusenhafter köpfe
sieben paar medusenhafter köpfe
die erinnerung hat sieben und acht paar
medusenhafter köpfe
acht paar köpfe acht paar säcke
acht klumpen dunkle von den köpfen geblendete
sie hat neun symmetrische klumpen an ihren neun
paar köpfen
zehn paar von ihren köpfen geblendeter köpfe
das heißt elf paar blendender medusenhafter
köpfe
die erinnerung hat zwölf paar köpfe zwölf paar
köpfe
sie hat dreizehn paar köpfe
die erinnerung hat vierzehn paar dunkler
medusenhafter köpfe
fünfzehn fünfzehn paar köpfe
die erinnerung hat sechzehn paar köpfe
sechzehn paar köpfe
die erinnerung hat siebzehn paar von köpfen
geblendeter köpfe
achtzehn paar köpfe und achtzehn paar säcke
sie hat achtzehn paar säcke in den klumpen ihrer
köpfe
das heißt neunzehn paar köpfe
die erinnerung hat zwanzig paar köpfe
die erinnerung hat dreißig paar köpfe
die erinnerung hat gar kein paar köpfe
absolut kein paar köpfe
absolut keine absolut keine köpfe
aber absolut keine köpfe
absolut drei köpfe
Dennis Brock
Drück auf’s Knöpfchen, Max, sagte Hamlet, und ich tat, wie er es mir befahl, und schaltete auf den nächsten Kanal. Dabei hieß ich gar nicht Max, vielleicht hat er aber auch Marx gemeint, dachte ich mir, womit er entweder eine antikapitalistische Haltung implizierte oder einen ironischen Kommentar, wie auch immer er es gemeint hatte, er hatte es gesagt. »Weiter, immer weiter«, rief Hamlet wie so ein irrer Kommandant im Ersten Weltkrieg und ich zappte durch die Programme, durch die unzähligen Programme, während neben mir meine Kameraden von Kugeln niedergestreckt auf den staubigen Wohnzimmerboden nieder fielen, wo sie elendig verrecken würden, ach wir armen Schweine, die wir hinter ihnen her putzen mussten oder wie es Daniel Brühl in Im Westen nichts Neues ausgedrückt hatte, wir müssen den Mist ausbaden, den sie und ihre Väter uns eingebrockt haben und ja, mit der Zeit lernte man, die Vergangenheit zu hassen. Also zappte ich durch den Bullshit, den sie da so verzapften und dabei murmelte ich unentwegt, also die ganze Zeit, wie so ein autonomer Automat, wie so ein philosophischer Zombie, »es ist eine Verzweiflung, die das hier antreibt, eine Verzweiflung, die das hier antreibt, eine Verzweiflung, die das hier antreibt.« Ja, eine einzige Verzweiflung war das, war das gewesen, die ganze Zeit schon und erst jetzt merkten es alle, was die Mafiosi längst wussten, dass Dinge kaputt gehen können, und dass sie kaputt gehen können, war nicht das Problem, das Problem war, dass sie es merkten, und Hamlet merkte es auch, das spürte ich sozusagen instinktiv, ich musste ihn dafür nicht einmal ansehen, es ging irgendwie telepathisch, beinahe magisch, vielleicht war es auch einfach nur ein Gefühl. Ich fühlte es an seiner Stimme. Sie hatte sich nur um Nuancen verändert, der Gesamtsituation angepasst, könnte man auch sagen, aber da war so ein Zittern drin, so als wüsste seine Stimme nicht, wie das nächste Wort klingen würde, so als müsste sie sich erst an ihren eigenen Klang gewöhnen, ungefähr genauso wie ein aus tiefem Schlaf erwachter oder ein Komapatient. Sie alle waren jetzt wie Rick in The Walking Dead, nur dass keine Zombies auf den Straßen umher wandelten, und das war vielleicht das Schlimmste an alldem.
Show more +Lea Nägle
Jüdisch-Sein im 20. Jahrhundert. Kann man das aus der Interpretation ausklammern? Ich kann es anscheinend nicht. Ich lese das Gedicht von Luca als Verarbeitung des Holocaust; oder eigentlich Un-Verarbeitung, weil es sich nicht in Sinnhaftigkeit übersetzen lässt. Die Beinpaare der Verzweiflung, personifiziertes Gefühl, grauenvoll, fliehend, vernichtet – absolut, nein, nicht ganz, es bleibt ein Rest. Wie ein Schemel mit drei Beinen, der stabil steht, schafft sich das Judentum in Folge der Shoah nach einer langen Geschichte der Vertreibung einen eigenen Staat.
Menschliches Leid, das um sich greift, wie dieses Ungeheuer namens Verzweiflung, ausufernd und unkontrollierbar. Die große Frage des Warum wurde noch ergänzt durch die Frage: Wie konnte das geschehen? Luca liefert keine Antworten, er produziert nur sprachliche Bilder, um die Sprachlosigkeit zu überwinden.
Mir wird klar, wie schwierig es aus heutiger Perspektive ist, sich in das Erleben jüdischer Menschen in Europa vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg hineinzuversetzen. Es liegt nicht sehr lange zurück und doch macht mir dieses Gedicht und auch die Biografie seines Verfassers deutlich, wie die jüdische Identität und der Antisemitismus das Leben von Millionen von Menschen bestimmten. Womit ist das zu vergleichen? Am besten mit nichts, denn zu Recht werden solche Vergleiche sehr kritisch beurteilt. Aber trotzdem würde ich gerne wissen, wer heute in unserer Gesellschaft in diesem Sinne eine bedrohte, prekäre, verfolgte Existenz aufweist.
Show more +Hermine Warnatz
Die Verzweiflung ist Laptopklicken, wenn du selbst keine Idee hast.
Eins, zwei, klick, klick.
Die Verzweiflung ist Stimmengewirr, durch welches der Text in meinem Kopf sich nicht ausformulieren kann.
Die Verzweiflung ist das Aufbringen einer Nachricht am Laptop einer anderen Person. Ding, Ding, mein Gedanke ist weg.
Die Verzweiflung ist die konzentrierte Stille im Raum, während mein Kopf schreit voller Ideenlosigkeit.
Klick, Klick, Ding, Ding.
Alle sind beschäftigt und ich starre in die Leere, starre Löcher in die Wand, starre Löcher in die weiße Datei, die vor mir liegt.
Vielleicht ist das meine ganz persönliche Verzweiflung.
Show more +Kai Simanski
(Grüße an alle Leser*innen. Weil ich es schreiben kann.)1 Ich grüß dich zurück2
Der Text von Gherasim Luca ist ein sehr gutes Beispiel für die Ideale3 des SRC4: Nicht nur geht es um die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten, sondern auch die der Deutungsmethoden. Ein Ergebnis der Diskussion: Man kann den Text wörtlich nehmen. Man kann aber auch davon ausgehen, dass eine wörtliche Konstruktion der Verzweiflung, eine Verzweiflung, die sich irgendwo in den Konzepten versteckt, die diese Wörter hervorbringen sollen, gar nicht die Absicht ist.5
Nein, sagt der Dadaismus6, nicht die wörtliche Bedeutung der Wörter ist das Entscheidende, wir trennen diese beiden Dinge, es geht um das, was sie auslösen. Entweder (1) steckt in den Wörtern also etwas, was die Verzweiflung dem/r Leser*in erfahrbar macht; sie wären durch emotionale Synonyme austauschbar oder (2) die Konstrukte, die in ihnen stecken, lösen die emotionale Erfahrung aus, sind also ebenfalls nicht allein durch sich selbst zu begreifen: Wer nur die Beine betrachtet und die Socken zählt, verfehlt den Sinn – und findet genau so zu ihm zurück. Wir waren lange am Zählen, am Addieren und Multiplizieren, unsere letztendliche Erfahrung darin war: Verwirrung. Verwirrung, in der Folge Überforderung, eine Form der Verzweiflung. Auch hier zeigt sich also eine mögliche Verarbeitung der Verzweiflung: Überforderung als eine Masse an Eindrücken, parallel zur Unmöglichkeit, sie zu einem kohärenten Bild zusammenzufügen.
Was ist die Lektion des SRC? Wir lernen das Verständnis des Unverständnisses. Nicht als unterhaltsame Widersprüchlichkeit, sondern als Paradoxon; warum es doch nur ein Scheinwiderspruch ist, ist die Erkenntnis, die uns in ihrer vollen Dimension wohl noch bevorsteht.
Oder aber es gibt kein Ziel und keine Absicht. Aber kann man das für das Universum jemals vollkommen ausschließen?7
1 Mir wird inzwischen klar, dass das eine sehr schlechte Idee war. Jetzt werden sich alle dazu angehalten fühlen, hier ebenfalls eine nette Begrüßung einzufügen. Die Aufblähung dieser Seite bleibt also abzuwarten. Sie bleibt aber auch noch abzuwarten, vielleicht ist das Ergebnis also ganz harmlos. Schüchternheit, mein Retter.
2 Nein, das stammt nicht von mir, das ist einer der »Grüße«. Siehe die Fußnote 1.
3 Nennen wir sie mal so.
4 Slow Reading Club.
5 Wenn man denn überhaupt von einer Absicht ausgehen kann. Nicht, dass es keine gäbe, aber woher soll man sie erahnen?
6 Hey, der war immerhin ein größerer Einfluss. Also … es scheint zumindest so. Nicht?
7 Das ist jetzt nur ein Scherz, der mit der hier dargestellten Programmatik direkt nicht so viel zu tun hat.
8 Noch so eine schlechte Idee.
Show more +Lina Schulz
Alles, woran ich denken kann, ist, dass die Verzweiflung bestimmt richtig schnell ist mit ihren 30 Paar Beinen, und dass ich schon lange kein Wettrennen mehr gemacht habe, aber früher oft und da hab ich meistens gewonnen, aber ich hatte nur 1 Paar Beine und ich frage mich, wie viel Vorsprung ich bräuchte, um der Verzweiflung mit ihren 60 Beinen und den Gabeln und den Socken zu entkommen. Und auch, welche Socken die Verzweiflung wohl trägt, und ob sie die auch mal wechselt. Weil vielleicht kann ich dann loslaufen, wenn die Verzweiflung gerade ihre Socken wechselt. Das wird ja wohl dauern, bei den ganzen Beinen. Und bis die Verzweiflung dann losläuft, bin ich bestimmt schon runter von der roten Tartanbahn und dann muss ich nur noch ein gutes Versteck finden. Die Verzweiflung hat 30 Paar Beine, 30 Paar Beine und 30 Paar Socken, 30 Paar Socken an den 30 Paar Beinen, symmetrische, vulkanische, absorbierende, rasende Beine, 30 Paar verzweifelte Beine mit 30 Paar Socken auf der Tartanbahn. Ich glaube, ich überrede die Verzweiflung, mit unserem Wettrennen anzufangen, wenn es geregnet hat. Dann ist die Tartanbahn rutschig und die Verzweiflung fällt vielleicht hin, mit ihren 30 Paar symmetrischen, vulkanischen, luftigen, aufsaugenden Beinen rutscht und schlittert sie hinter mir her und reißt sich die Socken auf und fällt, alle 60 Beine weit von sich gestreckt. Tartanbahnen verpassen auch die besten Schürfwunden.
Show more +Linn Bongard
Wir liegen
Du fragst mich nach meiner Lieblingszahl, ich überlege, ich will schlagfertig sein, ich bin mir nicht sicher, ob du fragst, um mich darauf zu testen oder, ob du das wirklich wissen willst.
Vorsichtshalber sollte ich deshalb schlagfertig antworten. Und interessant. Ich finde es gut, dass das bei dir so gut funktioniert. Ich kann total pretentiously deep sein, manchmal hau ich sogar aus Versehen Kalendersprüche raus, und du merkst das gar nicht. Das funktioniert bei dir, genau so, wie man sich das vorstellt.
Du guckst mich an, interessiertes Kopfschütteln. Du sagst, hör auf damit.
Innerlich lache ich, oft denke ich, dich zu durchschauen, stimmt meistens nicht, du bist ein bisschen anders, du hast viel erlebt.
Ich sage einfach drei. 3. Die Zahl, nichts weiter.
Du sagst hm. Wir schweigen, und ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich dich nicht auch nach deiner Lieblingszahl frage. Wahrscheinlich würdest du sagen, du magst die Sieben. Genau so: Ich mag die Sieben.
Jetzt will ich wissen, ob ich recht habe, ob du echt so antwortest. Also frage ich doch irgendwann.
Du sagst: Ich mag die Sechs. Wegen Satan.
Ich sage hm. Wir schweigen, sehen jeweils eine Sternschnuppe. Ich sage, ich mag wie ein Blatt nach nichts und viele Blätter nach Herbst riechen. Du sagst, hör auf damit.
Show more +Maite Herborn
Alouette
Fourchettes êtes nettes
Dettes, rien que dettes
Conteuse de sornettes,
alouette
Alouette
Sois gentil
Perçois les nettes
Sornettes
Coup de sonnette
Tourne les têtes,
Tourne les yeux
Tout puéri
Que tu te mettes
Point regrettes,
Aucunes dettes,
À l’abri.
Sophia Schweiger
zu ›Das Körperecho‹
Zweifel säen ist einfach. Sie wachsen schnell, gedeihen in der Dunkelheit, nähren sich von Angst, von Spott, von Trauer.
Du kennst das, vielleicht. Den Moment, wenn die Zweifel in Verzweiflung umschlagen. Wenn sie so groß, so verschlingend, so allumfassend geworden sind.
Ein Keim, der sich nicht mehr ersticken lässt.
Ein Gift, das sich durch deine Adern frisst.
Eine fleischfressende Pflanze, die alles verschlingt, was sich dir in den Weg stellt.
Die Zweifel gedeihen, die Verzweiflung reift heran, ein potenzielles Wachstum, unaufhörlich, unaufhaltsam.
Du siehst nichts mehr, du hörst nichts mehr, du schmeckst, du fühlst, du riechst nichts außer die Dunkelheit, die ohrenbetäubende Stille, den Brechreiz, die Kälte, den Gestank der Verzweiflung.
Du kämpfst dagegen an, vielleicht, wenn du die Kraft dazu hast. Verlierst. Immer wieder, bis du aufgibst, bis du einsiehst, dass es keinen Zweck hat, denn sie ist stärker als du.
Du atmest sie ein, wenn du noch kannst, es ist dein absolutes Ende, die Verzweiflung lässt dich verzweifeln, verzweifelt, Zweifel, zweifache Verzweiflung, dreifach, vierfach, dreißig und dann
absolut nichts.
Zweifel säen ist einfach.
Show more +Meret Stühmer
Beine im Prozess
Bein zum Aufrechtstehen
Bein zum Laufen, Vorwärtskommen
Bein zum Springen
Beine sind angsteinflößend in großer Zahl
Alles, was sich bewegt, ist in großer Zahl angsteinflößend
Beine, die nur sich selbst tragen, sind ziellos
(Das Wort Beine wechselt regelmäßig die Farbe, ich glaube, es möchte lieber braun sein und zu einem anderen Text gehören)
Verzweiflung ist nicht ziellos, eher zu zielgerichtet
Verzweiflung hat nicht nur Beine
Ginge es ums Stehen, hätten wir Wurzeln
Ginge es um Sicherheit
Ein Baum steht, er hat keine andere Wahl
Wer Beine hat, muss wählen
Show more +Peter Felix Müllejans
Ich habe Beine.
Ich habe einen Kopf.
Wenn ich ihn gegen die Wand schlage, hat auch die Wand kurz einen Kopf. Da bin ich nicht so besitzergreifend.
Wenn ich auf den Boden trete, hat auch der Boden Beine.
In der Regel läuft er mir dann davon.
Manchmal vergesse ich meine Beine oder sehe sie nicht mehr, sind ja weggelaufen.
Irgendwo muss der Boden eine ganze Sammlung von ihnen haben, aber er nimmt immer begeistert Neue an.
Da ist er großzügiger als ich.
Er hat wohl eine Art Waisenhaus für meine verlorenen Beine.
Vielleicht ist es auch nur ein Loch. Voller zuckender Beine.
Der Kopf rennt wenigstens nicht weg, würde er aber, wenn er denn könnte, da habe ich so eine evolutionäre Sicherheit.
Pech gehabt, der Idiot.
Vielleicht haue ich ihn deshalb so gerne gegen Wände, damit er mal eine Auszeit erhält, so eine Gefängnisfensterperspektive.
Irgendwie muss man ja seinem Sadismus frönen.
Hände habe ich auch.
Zumindest lügen das meine Augen, die verraten mich eigentlich ständig, dämliche Anarchisten.
Denn bemerkt habe ich meine krabbelnden Hände noch nicht.
Und latschende Füße und wegkrallende Arme und hüpfende Nasen und robbende Münder und das verwachsene Uns.
Alles nur so lange an mir, bis es fliehen kann.
Show more +Tanja Finke
Das dritte Bein
Ich stehe zwischen deinen Beinen. Umfangen, umgeben. Wärme an den Seiten, Luft von vorne und hinten. Die Seiten sind gleich. Deine Jeans riecht nach frischer Wäsche, meine Hände krallen sich in den Stoff, ich versuche, mit dir Schritt zu halten, während du breitbeinig vorangehst.
Ich stehe unter einem Torbogen. Über mir schließen sich die Wände, mir gelingt es nicht, beide Seiten zu sehen, immer nur eine. Rechts, links, rechts, links, rechts, links. Ich kann mich nicht entscheiden, will aber raus aus diesem Dazwischen, will mich für eine Seite entscheiden. Der Wind bläst von vorn, drängt mich zurück, tiefer in den Gang, warum kann ich mich nicht entscheiden?
Ich stehe in einem Tunnel. Vorne ist Licht, hinten ist Licht. Von wo bin ich gekommen, wo will ich hin? Nach vorn, zurück? Die Richtungen verschmelzen. Und dann sehe ich, wie das Licht schwindet, wie auf beiden Seiten etwas in der Öffnung erscheint, sich in die Mitte stellt, breiter wird, beide Wege verschließt. Die Zeit drängt! Ich kann mich nicht entscheiden …
Show more +Victoria Helene Bergemann
Ich habe einen Freund
einen, dem man überhaupt nichts anmerkt
einen Freund, der nach Jahren erzählte
er selbst dieser Freund
als Kind habe er gestottert
er selbst habe einen Cousin
und dieser Cousin wiederum
bei dem wäre es ganz genauso gewesen
ein Cousin mit Stottern
bis dann beide
der Freund und der Cousin
jeweils einzeln
nicht zusammen
gelernt hätten
nicht mehr zu stottern
beide hätten erst dann das Sprechen gelernt
wie die Leute es taten
denn beide hätten vormals gestottert
und das, so sagte der Freund,
sei genetisch
aber, so sagte er es
das könne man weglernen
sofern es genetisch ist
schon immer
der Freund erzählte von sich
und wie er als Kind gestottert habe
ja er stellte sich sogar auf eine Bühne damit
und erklärte den Leuten
wie Stottern ist
und dabei stotterte er kein bisschen
darum erzählte der Freund vom Stottern
denn die Leute
die Leute hätten den Freund selbst
nie für einen Stotterer gehalten
ich als Teil der Leute
nie
ich habe einen Freund
der als Kind
nicht an meiner Sprache teilnehmen konnte
wie ich
einen Freund mit einem Kommunizieren
das erst als Erwachsener eines war
so schnell wie das der anderen
der Freund selbst
er stottert nicht mehr
nur wenn der Freund erzählt
von seinem Stottern
dann plötzlich stottern die Leute
weil ihnen die Sprache fehlt
für das, was mit ihm war
Show more +Yasmin Sibai
A)
Ich schreibe nicht in der Öffentlichkeit
Ich schreibe nicht in der Öffentlichkeit
Ich schreibe nicht in der Öffentlichkeit
Nicht in der Öffentlichkeit
Nie in der Öffentlichkeit
Niemals in der Öffentlichkeit
Auf gar keinen Fall in der Öffentlichkeit
Öffentlichkeit ist Höffentlichkeit
Offenes Hoffen
Hoffen in der Öffentlichkeit
Auf gar keinen Fall will ich hoffen im Offen
Will nicht hoffen in der Öffentlichkeit
Ich pisse auch nicht in der Öffentlichkeit
Nicht aufs Kleid und
Auch nicht sonst wohin
Ich pisse auf gar keinen Fall in der Öffentlichkeit
Schon gar nicht in der Öffentlichkeit
Nicht aufs Kleid und schon gar nicht auf Hosen
Oder ins Rosenbeet
Niemals
Never
Ever
Ins
Beet
B)
Höffentlichkeit
Ist nicht privat
Privat Privileg Primat Pirat
Privatprimatpiratentaten
Ich schreibe im Privaten
Ich schreibe wie Primaten
Ich schreibe als Piraten
praten praten praten
piratenpraten
alsmaar praten
beraten piraten