Etwas, das ganz und gar fest war, muss aufgebrochen und dann, irgendwann, meist zu spät und unter Mühen und Schmerzen, wieder rekonstruiert werden. Das Feste aber war nur fest gemacht, nicht selbst gewählt. Davon ließen sich Bilder machen, anhand derer später erzählt werden kann, was gewesen sei. Nur davon lassen sich für Schreibende Bilder machen, von diesem Festen, Unerschütterlichen, Fixierten. Das, was von der Schrift nicht mehr erfasst werden kann, wird im Bild festgehalten.
Alles, was über das Bild hinausgeht, überschreitet die Körpergrenze und verlangt nach einem Medium, das sich dem Imaginären, von dem erzählt werden soll, anpassen kann. Wer von sich, von einer Kindheit erzählen will, legt sich in das „Bett des Imaginariums“ (Barthes) und schaut in die eigenen Augen, wenn sie etwas anderes erblicken. Ich ist immer mindestens zwei Andere.
Ein Semester lang haben wir Texte gelesen, in denen von Kindheit erzählt wird, von einer „abgesonderten Welt, deren Bestandteile in Form und Farbe aus der realen Welt hervorstechen und zur gleichen Zeit das darstellen, was sie vielleicht an Schärfstem besitzt.“ (Leiris) Dazu gehört eine geheime Sprache, mit einer Innen- und einer Außenseite. Ein ständiger Balanceakt zwischen Kurzschlüssen und Schlüsselwörtern, die den Bruch nicht verdecken, sondern als Realität sichtbar machen.
In nahezu allen Texten ist die Suche nicht nur nach dieser sprachlichen Balance gegenwärtig, etwa nach der Wiedererinnerung der Kindersprache, sondern immer auch die Suche nach einer Kindheit der Sprache, nach den Missverständnissen und Irrtümern, nach Lautähnlichkeiten, Unebenheiten, aus denen sich eine zerbrechliche, aber ebenso leid- wie lustvoll erfahrene Wirklichkeit verdichtet.
Dazu gehören vor Fenster schwebende Väter, die bald verschwunden sein werden (Nabokov), Wut und Beschämung des Davongekommenen (Eribon) oder die Kunst der Erregung: „Ich kann nach Herzenslust kotzen!“ (Céline). Mit Perec haben wir auf die traurigste aller Geschichten geschaut und auf eine Kunst, die, verzweifelt um Ordnung bemüht, gerade hier alles schweben lässt, auf große Wünsche, halbe Leben und die Initialzündung des „Ich habe keine Kindheitserinnerungen.“ Oder Raymond Federman, der vom Anfang und vom Ende erzählen kann, aber von dem, was dazwischen war, nichts; nur von einem Flüstern, mit dem sich alles auflöst.
Im Bild, das es noch gibt, im Spiegelstadium, ist ein Wesen zu sehen, das wie versteinert ist und das nicht weiß, warum das so ist. Das Wissen um diese Unwissenheit markiert die Schwelle, von der an erzählt werden kann. Das ist die „Ahnung entfernten Schmerzes, von der Kinder leben, ohne es zu wissen“ (Aichinger). Was wir sehen, wenn wir das Bild anschauen, das wir haben von der Kindheit, oder auch das, welches wir uns machen wollen, ist eine Konstruktion, eine Geschichte, die wir erzählen wollen. Obwohl wir wissen, dass die Selbstidentifikation immer verkennt, dass so ein Zusammentreffen nie geschehen wird. „Kindheit ist eine Lüge der Dichtung.“ (Gass)
Zwischen Aufruhr und Unterwerfung wie bei Peter Weiss rast diese Suche nach einem Ich, danach, wie es wirklich war, hin und her. Die schreiben und erzählen, müssen ein Paradox gestalten. Denn das Kind, das sie vielleicht waren, ist, wenn die Sonne in den Händen zerplatzt (A.F.Th. van der Heijden) oder Kugeln im Knie stecken (Cosic), nur um den Preis seiner Derealisierung zu finden. „Wenn ich frei war, dann war ich frei von Wirklichkeit.“ (Hilbig) Ein Traum vielleicht, ein abgelöstes Wesen, das nicht weiß, aber eben ahnt, wie ein Leben zusammen hängt. Wir gehen nun nur noch in die entgegengesetzte Richtung.
ς
Aus: Larissa Böttcher, Elena Groß, Silvie Lang, Valentin Pretzer, Mara Schepsmeier (Hrsg.): Vielleicht waren wir Kinder. Edition Paechterhaus 2017.