Eine alleinstehende Italienerin in den Mittvierzigern führt ein routiniertes Leben ohne große Überraschungen: Sie geht ihrer Tätigkeit als Universitätsangestellte nach, trifft Bekannte, besucht Bars und Geschäfte – und schwärmt aus der Ferne für den Lebensgefährten ihrer besten Freundin. Die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit: „[…] Ein Mann, mit dem ich eine Geschichte hätte haben können. Wer weiß, vielleicht sogar eine lebenslange. Er wirkt immer glücklich, mich zu sehen.” Doch trotz regelmäßigem Kontakt bleibt das Wesentliche zwischen ihnen ungesagt.
So scheint es sich in allen zwischenmenschlichen Beziehungen der Ich-Erzählerin zu verhalten: Ihre Freundschaften wirken oberflächlich und nicht zufriedenstellend. „Trotz ihrer angeblichen Verbundenheit interessiert sie mein Standpunkt eigentlich nicht, und darin liegt meine wahre Einsamkeit.” So urteilt die Protagonistin über ihre Mutter und beschreibt dabei das Verhältnis zu all ihren Kontakten. Anstelle diesen wirklich nahe zu sein, nimmt sie die Rolle der passiven Beobachterin ein.
Die Protagonistin ist einsam – und doch hält sie etwas in der Stadt, in der sie augenscheinlich ihr ganzes Leben verbringt, deren Straßen sie bereits als Kind entlangging. Vielleicht sind es die Schuldgefühle gegenüber ihren Eltern: ihrer Mutter, die selbst sehr unter dem Alleinsein leidet und darauf hofft, dass ihre Tochter diese von ihr nehmen kann. Und ihrem Vater, mit dem sie früher gemeinsame Theaterabende teilte, bevor er eines Tages plötzlich verstarb. Erst am Ende des Romans entschließt sich die Protagonistin, sich von ihrer Heimat loszusagen – und ihre Vergangenheit zurückzulassen.
„Wir verabschieden uns und gehen auseinander, und so werden auch wir beide zu auf die Mauer geworfenen Schatten: ein tägliches Schauspiel, unmöglich einzufangen.”
Jhumpa Lahiri in „Wo ich mich finde” – erschienen 2020 im Rowohlt-Verlag
Die 1967 in London geborene Autorin Jhumpa Lahiri wurde im Jahr 2000 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Neben zahlreichen Kurzgeschichten ist „Wo ich mich finde” ihr zweiter Roman. Viel passiert nicht auf den 155 Seiten des Buches. Dennoch wirkt „Wo ich mich finde” an keiner Stelle langatmig. Die Erzählung aus der Ich-Perspektive verleiht dem Roman den Charakter eines Tagebuchs; die Gefühle und Absichten der Protagonistin sind stets nachvollziehbar. Zwischen jeder Zeile lässt Lahiri ihre Lesenden die Einsamkeit der Protagonistin spüren, ohne dabei zu dramatisieren.
Kurze, mit Ortsangaben betitelte Kapitel geben Orientierung und sorgen dafür, dass man das Buch zwischenzeitlich leicht aus der Hand legen kann – wenn man es denn möchte. Mit „Wo ich mich finde” hat Jhumpa Lahiri eine einzigartige Atmosphäre geschaffen, die mir noch lange im Gedächtnis blieb.