Wenn die Welt sich nicht mehr weiterdreht

Tamara Bachs Jugendroman „Mausmeer“ begleitet zwei Geschwister beim Versuch einer Gegenwartsflucht und drückt auf die Pausentaste.

Ein abgelegenes Haus mitten im Wald. Ein See, der keinen Grund kennt und um den sich wilde Gerüchte über ein Monster ranken. Zwei junge Menschen, die ein Osterwochenende ohne Handyempfang in vollständiger Abgeschiedenheit verbringen. Doch wer nur darauf wartet, dass der Duschvorhang zur Seite gerissen und ein Schatten mit einer blitzenden Messerklinge auftaucht, irrt sich. Was klingt wie der Ausgangspunkt eines Thrillers, ist ein Coming-of-Age-Roman der ruhigen Töne.

Autorin Tamara Bach gibt uns eine Figurenkonstellation an die Hand, die im Leben so bedeutsam ist und doch in Romanen meist in Nebenrollen gezwungen wird: Zwei Geschwister. Annika studiert irgendetwas Banales und arbeitet an der Fertigstellung ihrer Bachelorarbeit. Benedikt hat gerade die Schwelle zur Volljährigkeit überschritten und ist mit der Fertigstellung seiner Schullaufbahn beschäftigt, allerdings eher im Sinne eines vorzeitigen Abbruchs. Probleme wie aus dem Modellbaukasten: Durch die Jahre zwischen den Kindern haben sie sich zeitversetzte Leben aufgebaut. Annika hat wenig Zeit für die Familie und zieht Benedikt mit ungeliebten Spitznamen auf, er ist das von Aufmerksamkeit bedachte Nesthäkchen und findet seinen Platz im Leben nicht.

Sie glaubt mit einem leidenschaftslosen Studium einen Weg in den Dschungel Leben gefunden zu haben, er macht keinen Hehl daraus, dass sie sich im Kreis drehen. Alle anderen Charaktere verschwinden in einer grauen Masse, unbedeutsame Pappfiguren, die vorgezeichneten Linien, der Vernunft oder dem Ruf des Geldes folgen. Angler, die Tag für Tag an den See ziehen und ihre Haken auswerfen, ohne je etwas zu fangen als einen vergangenen Tag. Abschreckendes Beispiel oder Plädoyer, dem Leben wieder seine Zeit zurückzugeben?

Und dann ist da noch ein Hauptcharakter: Das Haus am See hat die Großeltern längst überlebt. Nur die Massengräber der „Insektenfriedhöfe“ auf dem Fensterbrett sind seit ihrem letzten Besuch hinzugekommen. Die mumifizierte Kindheit von Ben und Annika, bunt gemalte Erinnerungen an fröhliche Tage, als „immer Sommer war“. Ein letztes Mal wollen sie zu dem Ort zurückkehren, schließlich wollen die Eltern es nach den Osterfeiertagen dem Erdboden gleichmachen.

Noch während seiner Geburtstagsfeier hat Benedikt seine Schwester unter dem Einsatz von Drogen und mit dem Auto der Eltern „entführt“ und in das seit Jahren verlassene Haus gebracht, um sie zu einem gemeinsamen Wochenende zu zwingen. Eine Mutprobe der besonderen Art: Zu besiegen gilt es keinen fremden Feind, sondern die unter den Geschwistern aufgebauten Mauern. Er sehnt sich nach der Bindung zur Schwester, vielleicht zerbrochen, vielleicht nie da gewesen? Doch die Vergangenheit ist so tot wie die Insektenleichen auf dem Fensterbrett. Die Zeit scheint stillzustehen in diesem Haus mit seinem Pfefferminztee und seinem Deutschlandfunk. Benedikt sucht Kuchenformen zusammen, aber Liebe lässt sich nicht backen.

Haus am See

Mausmeer – ein Titel, der in seiner Kürze symptomatisch ist für den Schreibstil seiner Schöpferin Tamara Bach. Ein einziger großer Bewusstseinsstrom, zumindest aus der überhasteten Ich-Perspektive Annikas. Nur selten bricht die Sonne durch.

Das klingt richtig und lustig. Ich möchte mir das aufschreiben. Ich will mir das merken.

Der nächste Satz beginnt und der Moment vergessen, die Gefühle haben sich längst hinter einem Schutzschild aus bissigem Zynismus versteckt. „Häufig weiß ich gar nicht, wie die Geschichte eigentlich aussieht, ich schreibe mich an die Geschichte heran. Andere wissen schon alles, wenn sie sich an den Text setzen“, erzählt Bach in einem Interview mit der Literaturkritik. „Ich lerne auch die Figuren erst beim Schreiben kennen.“ Und so lebt ihr Buch in den Tag hinein, hängt sich nicht an einer zurechtgebogenen Dramaturgie auf – gibt jedem Moment die Zeit, die er verdient.

Warm werde ich nie von diesem Buch. Aber Mausmeer lebt von einer Kühle, die Emotionen halten sich zwischen den Buchstaben versteckt. Tage vergehen und wir warten auf den magischen Moment. Aber es ist kein Hollywoodfilm, der die verlorenen Fäden zusammenführen will. Tamara Bachs Bilder und Gedanken kommen mir aus meinem Leben als großer Bruder verdächtig bekannt vor, ohne dass ich sie mir bislang eingestanden hätte. Zwei Geschwister, die blind füreinander geworden sind und in der Vergangenheit schwelgen. Und erst kürzlich habe ich mich ertappt, wie ich mich auch in das Haus am See gewünscht habe.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Carlsen