Warum ich nicht mehr mit cis Menschen über mein Geschlecht spreche, sondern sie darüber lesen lasse

Den Satz „Ich lese gerade Ich bin Linus: Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war von Linus Giese“ habe ich in den letzten Tagen immer wieder gesagt. Das Buch ist in diesem Monat im Rowohlt Verlag erschienen.
Die übliche Antwort meiner Freund*innen lautete: „Ist das eine Autobiografie? Kennt man Linus denn? Ist er überhaupt schon alt genug, um sowas zu schreiben?“

Ich stimme dieser subtextuellen Aussage meiner Freund*innen zu – eigentlich halte ich auch nichts davon, wenn junge Menschen in ihren Zwanzigern oder Dreißigern eine Autobiografie schreiben. Was haben die schon zu erzählen? Es gibt nur sehr wenige Ausnahmefälle, die mich in der Vergangenheit von sich überzeugen konnten. Ich bin Linus gehört dazu.

Ob es sich allerdings tatsächlich um eine Autobiografie handelt, wie der Titel des Buches es erst einmal suggeriert, stelle ich mittlerweile in Frage. Linus erzählt zwar einigermaßen chronologisch die Geschichte seiner Transition und gibt hierbei tiefgreifende und private Einblicke in sein Leben, seine Emotionen und seine Ängste, beschäftigt sich allerdings vor allem mit verschiedenen Themen, mit denen sich trans* Personen in ihrem Alltag immer wieder konfrontiert sehen. Vielleicht sehe ich das Buch eher als eine Art Fragenkatalog, eine Art Sammlung von Zweifeln, die trans* Personen durchlaufen?

Diese von ihm besprochenen Themenbereiche beschränken sich nicht nur auf vage cissexistisch-romantisierte Vorstellung der EINEN Transition, die jede trans* Person in ihrem Leben durchläuft (also von der sozialen zur rechtlichen zur medizinischen Transition). Kapitel für Kapitel zeigt er diverse Lebensaspekte von trans* Personen auf, geht auf trans* Feindlichkeit und Hass im Internet ein, auf Support, Beziehungen und Sexualität, auf Wohnungssuche, Arbeit und so viel mehr.

Linus Giese betont direkt zu Beginn seines Buchs, dass er nicht repräsentativ für alle trans* Personen steht, dass er nicht die EINE Erfahrung gemacht hat, die wir alle machen, dass er nicht für uns alle sprechen kann und dass er lediglich seine Geschichte und Erfahrungen in diesem Buch zusammenfasst. Und obwohl er eben nicht versucht hat, mir seine Stimme zu leihen, musste ich das Buch trotzdem oft aus der Hand legen, eine Pause machen, mir Zitate herausschreiben, manchmal weinen, manchmal lachen, manchmal tief durchatmen. Immer wieder habe ich meinen cis Freund*innen einzelne Passagen vorgelesen und gesagt: „Das ist es. So fühlt es sich an. Ich konnte das vorher nicht in Worte fassen.“

cis

Ich weiß nicht, ob es sich für cis Personen um ein gutes Buch handelt. Ehrlich gesagt ist mir das auch egal. Jeder trans* Person, die die Möglichkeit hat, würde ich aber empfehlen, Linus ein paar Stunden eurer Zeit zu schenken, um in seine Gedankenwelt abzutauchen und zu sehen, dass es noch andere gibt, die zweifeln, die Angst haben. Die denken, dass sie nicht trans* genug sind. Die manchmal glauben, nicht mehr weitermachen zu können und dadurch immer stärker werden.

Ich mag vor allem den Ton, den Linus in seinem Buch anschlägt. Natürlich kritisiert er das binäre Geschlechtersystem, natürlich kritisiert er (internalisierte) trans* Feindlichkeit, Cissexismus, all diese Sachen. Trotzdem wird sein Ton nie grob, nie fordernd oder wütend oder ungehalten. Wenn er von einer gesellschaftlichen Veränderung schreibt, die längst überfällig ist, um trans* Personen ein gutes und angstfreies Leben in unserem System zu ermöglichen, dann nutzt er stets die Formulierung „Ich würde mir wünschen, dass“. Ich möchte mir diese Formulierungsstrategie an dieser Stelle aneignen und eine eigene Utopie äußern, die sich während des Lesens in meinem Kopf geformt hat:

Ich würde mir wünschen, dass alle cis Menschen Linus 218 Seiten Platz in ihrem Leben einräumen. Die Geschichte eines Menschen, der nach 31 Lebensjahren das Privileg verliert, der „Norm“ anzugehören, ist definitiv lesenswert.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Casjen Griesel | Pfeil und Bogen