Man könnte sagen, ich habe Angst. Ein bisschen. Nicht viel. Aber genug. So, wie ich da auf dem Sofa sitze, eingepackt in meine Winterdecke und das Buch in meinen Händen haltend, fest entschlossen, es aufzuschlagen. Ein zweites Mal, um genau zu sein. Bereits vor einigen Wochen habe ich die ersten Seiten gelesen und sie haben ein mulmiges Gefühl in mir hinterlassen.
Kate Glory Lie – der Titel des am 30. August 2019 in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen Debütroman von Stefan Scheufelen und der Name der Protagonistin. Sie lebt in Berlin, liebt die Bühne, die Show, den Glamour. Eigentlich ist Kate Glory Lie ihr Künstlername, aber irgendwie auch nicht. Im Gegensatz zu den meisten Drag Queens legt sie ihre Rolle nie ab, wenn sie die Bühne verlässt. Im Privatleben ist sie ein „recht femininer Mann“ (S. 75), wie sie es selbst bezeichnet, aber sie ist und bleibt Kate.
Die ersten Seiten ziehen sich etwas zäh dahin. Drogen, Sex, Drogen, Sex. Und wieder umgekehrt. Dazwischen hin und wieder ihr Minirevolver, den sie aus dem Gewürzschrank reißt, wenn eine Situation zu eskalieren droht – oder wenn ihre Mitbewohner mal wieder so dermaßen high sind, dass kein Gespräch mehr mit ihnen möglich ist. All das schildert Kate in kurzen Sätzen, fast schon emotionslos, weswegen sie zunächst unnahbar und abgeklärt auf mich wirkt.
Nur hier und da werden mir als Leserin ein paar Gefühlszustände wie Brotkrumen vor die Füße gestreut. Doch diese machen Kate für mich kaum zugänglicher, sondern lassen sie auf mich vor allem fake wirken: In der einen Sekunde bekundet sie, wie herrlich doch diese und jene Person oder eine Situation sei, nur um darauf sofort wieder das Interesse zu verlieren oder ihre eigene Haut zu retten. So wirft sie beispielsweise einen Dackel, den sie „auffressen [könnte], so süß ist er“ (S. 24), aus dem Fenster um Stress mit dessen Halter zu vermeiden, nachdem einer ihrer Partygäste den Hund mit Kates eigenem Minirevolver abgeknallt hat. Genau das ist es, was mir beim Lesen der ersten Kapitel Sorgen bereitet hat.
Stumpfe Klischees und hier und da negative Charakterzüge. Irgendwie schwebt das Wort Othering – also das gezielte Abgrenzen einer Gruppe, um sich selbst dagegen als überlegen darstellen zu können – in meinem Kopf herum. Obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, ob es hierfür tatsächlich der richtige Begriff ist. Ich habe noch nie etwas von dem Autor gehört, weiß nicht wie ich ihn einordnen und wie ich dementsprechend den Roman lesen soll. Ernst? Ironisch? Eine Mischung aus beidem?
Erst vor ein paar Tagen habe ich einen Text über Social Identity und Representation in Sammelkartenspielen gelesen. Dort hieß es (verkürzt), dass es wichtig sei, Interaktionen mit fiktiven Charakteren, die marginalisierten Gruppen angehören, positiv zu gestalten. Denn so könnten Vorurteile bei Personen, die z.B. nicht mit Menschen der jeweiligen Gruppe im Real Life in Kontakt kämen, abgebaut werden. Logisch. Den Text habe ich, was diesen Aspekt angeht, zunächst nicht weiter hinterfragt.
Aber nun, während ich Kate Glory Lie lese, frage ich mich plötzlich, was denn positiv überhaupt meint. Und kann/darf gerade ich als cis- Person, die kaum mit Travestie in Kontakt gekommen ist, beurteilen, wann eine Drag Queen wie Kate positiv repräsentiert wird und wann nicht? Muss sie oder eine andere queere Person überhaupt positiv dargestellt werden? Also positiver als andere? Wären dies Ansprüche, die auch an einen nicht queeren Charakter gestellt würden? Wenn nicht, ist das nicht wiederum diskriminierend? Oder verhält es sich hierbei wie mit dem Spannungsverhältnis zwischen Equality und Equaty?
Braucht es zunächst eine ungleiche Behandlung, um den Zustand der Gleichberechtigung überhaupt erst einmal herstellen zu können? Und was wäre, wenn nun (um es gelinde auszudrücken) eine sehr konservative Person dieses Buch läse. Eine Person, die starke Vorurteile gegen eine bestimmte marginalisierte Gruppe hat. Wirken sich solche Klischees dann nicht eher bestätigend auf Vorurteile aus? Wie viel Verantwortung trägt der*die Autor*in? Und wie viel der*die Leser*in? Mit diesen Fragen im Kopf dämmert mir, dass der Roman zumindest für mich persönlich doch bereichernder sein würde, als ich nach den ersten gelesenen Seiten angenommen habe.
Je mehr ich lese, desto nahbarer scheint Kate zu werden. Besonders Kates Mitbewohner Sebastiao und Fabio haben es mir angetan. Sie erinnern mich an Fred und George Weasley, aber anstatt der Vorliebe für Zauberscherzartikel haben die beiden ein Faible für kleine, bunte Pillen. Sebastiao und Fabio sind ein, nunja, eher ungewöhnliches Pärchen, das es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben scheint, sich gegenseitig LSD unterzujubeln, ohne dass der andere etwas davon mitbekommt.
Fast alles, was die beiden anpacken, geht schief. Kate bezeichnet die beiden mehrfach als „Idioten“. Kurz gesagt: Sebastiao und Fabio sind eine Mischung aus den Weasley-Zwillingen und Jesse Pinkman – wie hätte ich sie nicht direkt ins Herz schließen können? Deswegen freut es mich umso mehr, dass Fabio über ein paar Kapitel hinweg Raum als Erzähler gegeben wird.
Nach einer Ewigkeit, so scheint es mir – und ja, vermutlich liegt es nur daran, dass ich die ersten Kapitel das zweite Mal lese – stoße ich auf den einen Satz, auf den ich innerlich gehofft habe: „Alle Drags sind so unterschiedlich“ (S. 41). An dieser Stelle bin ich mir weitestgehend sicher, dass Scheufelen über ein gewisses Fingerspitzengefühl verfügt, das ich anfangs etwas vermisst habe. Ich begleite Kate weiter von einem Rausch zum nächsten. Dabei, wie sie mit Zigarette im Mundwinkel zum Einschlafen ihre Geldscheine zählt, die sie unter dem Bett versteckt, mindestens 32.000 Euro. Und als Fabio einen Drogenschmuggel-Auftrag in die USA und einen Auftritt in einem Theaterstück für Kate klarmacht, wittert sie noch größere Summen.
Doch beim Karneval der Kulturen überschlagen sich die Ereignisse – für meinen Geschmack etwas zu sehr. Dass Sebastiao und Fabio chinesische Rauchbomben beim Karnevalsumzug als Ablenkungsmanöver zünden, um Kates gestohlenen Ohrringe zurück zu klauen und sich dabei in eine Schießerei verwickeln, ist in meinen Augen doch ein wenig too much. Noch während des Karnevals bekommt Kate einen weiteren Krankheitsschub, der ihre Pläne in den USA gefährdet. Sie hat MS. Doch Kate wäre nicht Kate, wenn sie nicht trotz ihrer Erkrankung die monde de l’amour (die neuste Drogenkreation von Kates Schwarm Odette) in ihrem Hintern in die USA befördern, sich dort mit einem Drogenboss herumschlagen und sich nebenbei noch auf ein Theaterstück über die queere Community im Irak vorbereiten würde.
Eine schillerndere Figur als Kate kann ich mir kaum vorstellen. Sie ist eine Persönlichkeit, die im gesamten Spektrum des Lichts funkelt – heller als ihre Paillettenkleider oder Diamantohrringe. Ein bisschen Holly Golightly für die Party – für den Glamour – einen Hauch Anakin Skywalkers Ego, Bad-Ass wie Walter White, den Galgenhumor eines Jack Sparrows und dazu seine Vorliebe für alkoholische Getränke. Mit Kate durchlebe ich eine Achterbahn der Gefühle: Mal ist sie unglaublich reflektiert, nur um im nächsten Moment an den scharfen Felsen der Selbstgerechtigkeit zu zerschellen.
Sie ist taff, fährt im wahrsten Sinne des Wortes die Ellenbogen aus, wenn nötig und amüsiert sich über Verletzungen anderer. Meiner These nach aus Unsicherheit – sie scheint nichts Gutes mehr von Menschen, außerhalb der queeren Szene zu erwarten. Dafür hat sie schon zu viele Erfahrungen mit Diskriminierung machen müssen. Und dann ist sie in der Art der Beschreibung ihrer Vergangenheit wieder plötzlich ganz weich, so sanft.
Sie bemitleidet einen alten Mann an einer Bahnstation, den die Drogen zerstört haben, wenige Sekunden zuvor, hat sie dank der Jamaika-Kombo von Sebatiao (eine gelbe, eine grüne und eine schwarze Pille) auf ein Baby im Kinderwagen gekotzt. Im Übrigen bemitleidet sie auch dieses dafür, dass es in eine solche Welt wie unsere geboren wurde. Wenn ich auch nur eines über Kate sagen kann, dann wohl, dass sie mich immer wieder überrascht. Am Ende des Romans ganz klar zum Positiven – etwas worauf ich gehofft, womit ich nach den ersten paar Seiten aber nicht unbedingt gerechnet habe.
Scheufelen hat ein Faible für schräge, aber liebenswerte Charaktere – genau wie ich auch. Hinzu kommt eine Portion politisches Statement, wodurch mein Aktivistinnen-Herz höherschlägt. Der Roman lässt die ein oder andere moralische Frage in meinem Kopf zurück, die sich wohl auch auf meine eigenen Texte auswirken werden:
Darf ich als Verfasserin eines Textes Reibungen erzeugen, beispielsweise indem ich mich bewusst an Klischees und Zuschreibungen bediene, ohne diese zu relativieren? Darauf hoffen, genau durch das Anecken bei den Leser*innen einen Diskurs zu öffnen – auch wenn ich die Kontrolle dieses dann in die Hände der Lesenden lege und schließlich nicht weiß, was aus meinen Texten gemacht wird? Ist meine Darstellung dann toxisch? Ist es überhaupt sinnvoll eine solche Herangehensweise zu wählen, wenn ich für ein bestimmtes Thema sensibilisieren will?
Rundum Dinge, die ich von einem Roman erwarte, um ihn als gelungen zu empfinden. Auch, wenn mir das ein oder andere Ereignis ein wenig too much und damit etwas zu unrealistisch ist. Der Roman spielt mit Klischees, aber ist dennoch einiges vielschichtiger als auf den ersten Blick zu erwarten. Und insgeheim hoffe ich auf ein Spin-Off zu der Kennlerngeschichte von Sebastiao und Fabio.