TW: Der vorliegende Text enthält Beschreibungen von (körperlicher) Gewalt/Folter.
Vorwort
In Stanisław Lems philosophisch-fiktiv-essayistisch-nichtineinereinzelnenkategorieverortbaren Werk Also sprach Golem (auch bekannt als GOLEM XIV) philosophiert ein Super-Computer, eine menschengemachte künstliche Intelligenz über seine Schöpfer_innen und sich selbst. Während GOLEM XIV (so heißt die KI) Letzteren gerade versucht ihre eigene Beschränktheit zu demonstrieren, fällt folgender Satz:
„Eben dies hat Wittgenstein im vorigen Jahrhundert geahnt; er hatte den Verdacht, daß viele Probleme der Philosophie im Grunde Verknotungen des Denkens seien, Selbstfesselungen, Verschlingungen und gordische Knoten der Sprache, nicht aber der Welt.“1Stanisław Lem, Also sprach Golem, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1986: 80.
Was „Eben dies“ ist, was Wittgenstein wohl geahnt hat, ich hier aber nicht weiter ausführen werde, soll an späterer Stelle noch thematisiert sein – schon allein um keine/n Leser_in (der/die so lange durchhält) unbefriedigt zurückzulassen. Stattdessen möchte ich mich zunächst, mehr als der Ahnung, dem „Verdacht“ Wittgensteins widmen, und zwar deshalb, weil alles, was von nun an, d.h. im Rahmen dieses Textes, folgt, vor dem Hintergrund jenes Verdachts gelesen werden kann, ja, sogar misstrauisch unter den Verdacht gestellt werden sollte, dass das, was hier steht (oder dort) möglicherweise nichts weiter ist, als ein Knoten, den jemand (also ich) sinnloser Weise in sein mentales Artikulationsorgan gezwirbelt hat.
Dafür, und um den Schlussteil des obigen Zitats zu verdeutlichen (oder je nachdem, zu verwischen), ist es, nichtsdestotrotz, vielleicht doch sinnvoll kurz auf Optionen des Umgangs mit (sprachlichen) Verknotungen einzugehen und gewissermaßen eine Art Gebrauchsanweisung für derlei Verwirrungen zu liefern, die letztlich die DNA dieses, aber durchaus auch anderer, vielleicht sogar „aller“ (philosophischen oder sonstigen) Texte darstellen:
Für gewöhnlich – d.h. im Falle eines Textes, der über einen einzelnen Knoten hinauskommt – verbinden sich solche Verknotungen irgendwann und bilden, sobald genügend Knoten vorhanden sind, netzartige Strukturen. Man* kann sie auswerfen, um etwas einzufangen, wie ein Fischernetz, in das sich der Inhalt eines unbekannten Gewässers entleert; große und kleine Fische, Krabben, Meeressäuger, daneben allerlei Unrat, der in den Maschen hängen bleibt, alte Benzinkanister, Plastikflaschen – (Flaschen-)Post aus fernen Ländern, oder auch ganz nahen – und was nicht alles. Nicht ganz so verfänglich, aber nicht minder üblich, ist der Gebrauch des Textes als dekoratives Häkeldeckchen. Ein Häkeldeckchen ist ein Gegenstand, der in seiner herkömmlichen Verwendung passiv bleibt.
Es liegt lediglich herum, meist auf einem altmodischen Möbelstück, und verstaubt. Dafür fischt es allerdings auch keine Ozeane leer (und verwandelt Lebensräume in leblose Räume, Unterwasserwüsten). „Objektiv“ betrachtet scheint das Häkeldeckchen damit zwar weit weniger zweckvoll denn das Fischernetz – jenseits des (von den Vertreter_innen der Objektivität zugestandenen) subjektiv zu bewertenden Zwecks der Dekoration natürlich. Doch vielleicht liegt gerade hierin sein Wert, gegenüber Letzterem: Es will nichts (be)greifen, will nichts einfangen (außer Staub), will nichts Spezifisches sein, als eben vielmaschiges Entzücken oder Grauen und die Schattierungen dieser beiden Begriffe, bzw. der ihnen entsprechenden Gemütszustände.
Es ist einfach da, und man kann es anschauen und versuchen, sich einen Reim darauf zu machen, oder nicht. Aber es tut keinem weh, wenn es ihn oder sie durch bloßes Dasein dazu auffordert, über seine Sinnhaftigkeit nach zu grübeln, über die Sinnhaftigkeit von Artefakten, Stilen, Lebensweisen: Leben; und ihn oder sie so vielleicht wenigstens einen Moment davor bewahrt, zum Beifang der eigenen die Welt auf Zweckmäßigkeit ausbeutenden Natur zu werden.
Gleichzeitig eignet sich ein Häkeldeckchen wunderbar zur Musteranalyse. Das Muster eines Deckchens kann mit einem anderen verglichen werden. Dabei ist jedes Muster etwas abgeschlossenes, in sich geschlossenes, singuläres und beansprucht daher auf seine Weise Autonomie, soll heißen: getrennt vom Rest der Welt als eigene Welt betrachtet zu werden.
Oder in anderen Worten: Während es scheinbar träge und nutzlos bleibt, isoliert und zweidimensional, nichts weltumspannendes und demnach auch nichts (die eigentliche) Welt bewegendes(?), entzieht es sich doch immerhin dem Totalitätsanspruch einer raubmordenden Rationalität (nach einigem Überlegen nimmt sich diese Alliteration nicht annähernd so reißerisch aus, wie sie sich anfänglich gibt), die den Sinn von Dingen, nicht in den Dingen selbst, bzw. in ihrer Form zu erkennen vermag, sondern allein in ihrer Formbarkeit und Nutzbarmachung für andere Dinge (Zwecke), sie also in Übereinstimmung mit universalistischen Prinzipien zu bringen versucht, anstatt nach den Übereinstimmungen innerhalb eines Dings (Musters) oder den Analogien zu anderen Dingsen (Mustern) zu suchen (und im selben Zuge stets darauf bedacht zu sein, ihnen nicht die jeweiligen Eigenheiten abzuerkennen).2Vgl. Theodor W. Adorno, 5. Vorlesung zur „Geschichtsschreibung unter dem Gesichtspunkt des Opfers“, Quelle: Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Band 3: Ästhetik (1958/1959), Hrsg. v. Eberhard Ortland, S. 33ff., 74-86; Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009, nach Marco Schüller, Texte zur Ästhetik – Eine kommentierte Anthologie, WGB (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) Darmstadt, 2013: 189-195.
Kurz: Texte lassen sich (mindestens) auf diese zwei Arten lesen und (re)produzieren. Die eine sieht in ihnen Werkzeuge zur Nahrungsbeschaffung (Fischernetz) und beurteilt sie dementsprechend hinsichtlich Funktion (Tauglichkeit des Netzes) und Gehalt (Quantität und Qualität des Fangs). Die andere Les-, respektive Machart wendet sich dem dekorativen Charakter sprachlicher Verknotungen zu, sprich: der Ästhetik. Hier bestimmt ein (mehr oder weniger persönliches) Geschmacksurteil, in dessen Rahmen es dezidiert nicht um Objektivität geht, sondern um eine Meditation über eigene und fremde Idiosynkrasien.3Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1991: 58.
Somit bleibt es letztlich auch im Falle des vorliegenden Textes Lesenden überlassen (wie soll anders sein?), ob sie in ihm ein Fischernetz vorfinden wollen oder doch (nur) ein Häkeldeckchen. Oder aber – auch das ist möglich und sogar wahrscheinlich – sie finden nicht das ein oder das andere, sondern, aufgrund einer Zweckentfremdung, beides, etwa ein Fischernetz, das als Dekoration oder ein Häkeldeckchen, das zum Fischfang verwendet wird (was auf eine gewisse Ineffizienz der Konstruktion hindeuten könnte).
Um nun endlich die Metaebene zu verlassen und mit dem eigentlichen Akt der Verknotung zu beginnen, ein letzter Aufruf: „(Spätestens) ab jetzt, bitte Obacht!“