Niegeschichte
Dietmar Dath, Niegeschichte, © Matthes & Seitz

David, Dagmar und Dieter

Über Dietmar Daths „Niegeschichte“

Die Form SF ist ein Antidot gegen den Platonismus, von der Offenbarungsreligion bis zum politischen Dogma. Sie hebt den Unglauben ans Unwirkliche auf, um den Glauben ans Wirkliche von der Seite anzuschauen. Wo das Wirkliche nicht wahr ist, kann die Kunst das zeigen. Ihr Spiegelbild heißt Erkenntnis; der Gewinn ist der Kosmos. Sie hat alle Zeit für ihn.

Ich klappe das knapp tausendseitige, lavendelfarbige Buch zu, das mich in den letzten Wochen begleitet hat, und lasse diesen letzten Satz, diesen letzten Augenblick auf mich wirken. Im Hintergrund läuft We’ve Never Met but Can We Have a Cup of Coffee or Something von In Love With a Ghost.

Mir gegenüber, in einem Sessel, dessen Polster mit dunkelgrünem Samt überzogen sind, sehe ich wie immer ihn sitzen. Er hat den Kopf ein bisschen schief gelegt und ich fühle mich in meiner Reaktion analysiert, was mir unangenehm ist, nur ein bisschen, und ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich neulich im Internet über ihn herausgefunden habe und was sein neustes Werk mir über ihn verraten hat: Dietmar Dath, geboren 1970, Autor und Journalist, hat einige Jahre für die FAZ geschrieben, lebt in Freiburg, beschäftigt sich vor allem mit Science Fiction. Seine Pseudonyme sind mir in besonders lebhafter Erinnerung geblieben: David Dalek, Dagmar Dath, Dieter Draht.

Seit ich die zum ersten Mal gelesen habe, bin ich ebenfalls auf der Suche nach einem Pseudonym, das zu mir passt – oder eben nicht zu mir passt, weil eigentlich sollte es ja von mir als Person ablenken. Ich weiß außerdem, dass er im jungen Erwachsenenalter Nachhilfe gegeben hat, davon erzählt er unter anderem in Niegeschichte (2019, Matthes & Seitz). Und „erzählen“ ist eigentlich ein gutes Stichwort, um das zu beschreiben, was ich in den letzten Wochen erlebt habe: Ich habe mich, wo auch immer ich war und das lavendelfarbige Buch auspackte, gefühlt, als würde ich genau hier sitzen: in diesem imaginären Wohnzimmer mit samtgrünen Polstermöbeln und einem Kamin links von mir und Dietmar Dath mir gegenüber, mich ansehend, auf meine Reaktion wartend, während er mir von seiner unendlichen Niegeschichte erzählt.

Die Musik wechselt zu controlla von Idealism. „Unendlich“ ist an dieser Stelle übrigens nicht als negatives Attribut gemeint. Vielmehr als ein Wort, das zu beschreiben versucht, wie groß das in diesem Werk angesammelte Wissen und das Potenzial wirken – und wie existenziell das Anliegen des Werks für die Science Fiction selbst ist. Er sagt dazu: »Ich habe versucht, die explizite Verwendung kategorientheoretischen Vokabulars in Niegeschichte auf ein Minimum zu beschränken, aber implizit ist so gut wie jeder Vergleich und jede Unterscheidung im Buch funktorial gedacht, immer wird gefragt: „Was sieht das, wenn es in die SF schaut?“, und wenn die Leute, die das Buch lesen, am Ende nahezu automatisch in dieser Perspektive lesen, was sie hier lesen, hat die umfangreiche Übung ihr Ziel erreicht.«

Jetzt, nachdem Dath mir seine Geschichte also vollständig erzählt hat und wir uns in diesem Wohnzimmer gegenübersitzen, stelle ich mir selbst die Frage, ob das Ziel, das er formuliert hat, bei mir erreicht wurde. Und tatsächlich merke ich, dass ich vor allem zwei Dinge gelernt habe: Erstens fragt Science Fiction immer „Was wäre wenn?“, und zweitens ist „SciFi“ (gesprochen: Skiffy) eine Beleidigung des Genres, stattdessen sagt man „Science Fiction“ oder „SF“ (die zugehörigen Adjektive sind sciencefictional und sfnal).

Und da ich mir, seit Dietmar Dath mir diese beiden elementaren Dinge beigebracht hat, in meinem eigenen Schreiben ständig die Frage stelle: „Was wäre wenn, und wie würde das in der SF funktionieren?“, strecke ich an dieser Stelle anerkennend die Hand nach ihm aus, um ihn für seinen Erfolg zu beglückwünschen. Zumindest bei einer Person hat es funktioniert.

Als nächstes läuft haiku von Nohidea. Es erinnert mich an die Anfänge der Erzählung, die sich darum drehten, was diese „Niegeschichte“ eigentlich ist, von der er mir dann mit so viel Passion erzählte, dass er mich dabei nur Mitreißen und in seinen Bann ziehen konnte: Sozusagen eine Zusammenfassung aller Geschichten, die als Summe das Genre Science Fiction ergeben. Glücklicherweise kontextualisiert er auch das eigene Werk innerhalb seiner Erzählung immer wieder, damit wir, seine Zuhörer*innen, nicht irgendwo im Kosmos verloren gehen: »Niegeschichte ist in diesem Sinne selbst SF, […]. Gegenstand des SF-Romans Niegeschichte ist die Geschichte aus allen Geschichten der SF, die dieses Buch eben „Niegeschichte“ nennt.«

Bild mit freundlicher Genehmigung von Matthes & Seitz