Drei Kilometer - Nadine Schneider
Drei Kilometer - Nadine Schneider

Drei Kilometer ~ Annäherungen an Anna

1989 fiel die Mauer in Berlin und in Rumänien fand Ceaușescus Regime ein Ende.
1996 sagte mein rumänischer Vater, Rumänien würde niemals Teil der EU sein.
2019 nahm ich ein kleines Buch von einem kleinen Stapel im Büro des Literaturinstituts und Rumänien war Teil der EU.

Es war der Stapel der zurückgelassenen Bücher. Bücher, die nicht laut genug schienen, übergewichtig oder zu unscheinbar, um zum Schreiben einer Rezension gewählt zu werden.
Mein Buch wog nicht viel, der Umschlag zeigte ein staubig graues Kornfeld und der Klappentext versprach politische Relevanz.

Ich wählte es aus und war mir nicht sicher.

Misch ist still und entschlossen. Ich stelle ihn mir groß und schön vor, mit dunklen Augen, kräftigen Brauen und etwas Berechnendem im Gesicht. Er liebt fair und schmerzvoll.
Misch will durch den Mais.
Hans ist laut und scheint unbedacht. Ich stelle ihn mir heller vor, kleiner, mit wachen Augen, die leuchten, wenn er lacht.
Seine Liebe ist bedingungslos und uneingeschränkt.
Hans redet viel vom Mais und weiß nicht, was er will.
Anna will bleiben.
Ich stelle mir vor, dass sie Rehaugen hat.
Anna ist gerne zuhause. Sie mag die trockenen Sommer, weich und blass (…), überzogen vom Staub in der Luft, die der Regen lange nicht reingewaschen hat. (S. 152).
Sie findet die Dinge in Ordnung, so wie sie sind, und am liebsten hätte sie, dass sie so bleiben.
Lieben kann sie nicht, doch genauso wenig kann sie hassen.
Ich glaube, Anna wartet. Darauf, dass das Leben passiert.

Anna ist eine der authentischsten Figuren, von denen ich je gelesen habe. Als Erzählerin der Geschichte bestimmen ihre Gedanken den Ton der Welt, in der sie sich bewegt. Und auf unbemühte Weise lässt sie alles klar und unhinterfragt erscheinen. Mit ihrer weichen Stimme malt sie Bilder eines Rumäniens, das einen Schmerz in mir weckte, als würde sie mir von einer gemeinsamen verlorenen Freundin erzählen. Die Sommer sind immer heiß, die Winter immer hart und kalt und trotzdem schaffte Anna es mich zu überraschen.
Zuerst dachte ich, sie würde fliehen. Dann dachte ich, sie würde bleiben. Und dann, dass sie Hans nie würde lieben können.
In Anna habe ich mich verliebt. Genau wie Hans und Misch, wie Annas Großmutter, Annas Vater, der das nicht zeigen kann, Annas Mutter, für die es zu spät ist, und wie der schwarze Hund, dessen Liebe aus Angst entspringt.
Zuerst habe ich mich in Anna verliebt und dann in Drei Kilometer.

Nachdem ich die Hälfte des kleinen Buches verschlungen hatte, wollte ich wissen, wer Anna erfunden hatte. Unweigerlich stellte ich mir Annas Tochter vorIhre Mutter liebe die Geschichte, schreibt Nadine Schneider in der Danksagung des Romans, und ihr Vater habe seine Erinnerungen geteilt.
Beide Eltern wanderten aus Rumänien aus, bevor ihre Tochter geboren wurde.
Ich denke an die Liebe und den Schmerz, mit dem Anna spricht. Hast du sie je gesehen, Nadine Schneider, die blassen, weichen Sommer? frage ich mich. Ob ja oder nein, mir hast du sie gezeigt.

Ja, Drei Kilometer spielt 1989 in Rumänien. Und ja, es erzählt vom Leben an einer Grenze, vom Mais und davon, wie er wächst, wie er verschluckt und wie er geerntet wird. Aber vor allem erzählt es vom Erwachsenwerden und von dem Wunsch dort innezuhalten, wo es okay ist. In einem kleinen Moment, im Sommer, für immer. 

Solche Tage erinnerten mich daran, dass noch eine Leichtigkeit in den Dingen steckte. Dass die Schwere sich nicht an alles gehängt hatte. Es war der letzte Platz, an dem man noch in die Temesch steigen konnte, und vielleicht der letzte Tag des Sommers, an dem wir es taten. 

Veränderung kann bedeuten, dass es besser wird. Aber sie kann auch das nehmen, was in Ordnung ist, und klaffende Löcher hinterlassen.
Ja, Anna erzählt uns von einer politisch relevanten Zeit. Doch Anna bleibt in ihrem staubigen Dorf und wir bleiben bei ihr.
Drei Kilometer spuckt keine großen Fragen aus über die Wege des Lebens. Anna erlebt keine großen Wandlungen und gelangt an keine Wendepunkte, an denen sich alles verändert.

Ich glaube, Drei Kilometer ist ein Buch des Ausharrens. Ich denke an den freien Fall zwischen Absprung und Aufschlag. Die letzten Monate von Ceaușescus Regime mögen dieses Gefühl einbetten. Ein Mann nahm einem Land, was es nie wieder zurückerlangen würde. Und als er ging, waren da Löcher, und die Löcher füllten sich mit Neuem.

Der Aufschlag wird geschehen, so oder so. Das Leben passiert und Anna weiß das.

Ich wollte mir nichts anderes vorstellen außer heißen Augusttagen und Wintern, in denen sich die Kälte fest gegen die Fenster drückte. Nichts außer dem Frühling, wenn die alten Frauen ihre Bänke vor den Häusern bezogen und ich das kratzige Singen ihrer Stimmen hörte, die nichts erzählten, was mich interessierte. In einem Tonfall, der immer klang wie eine Tür, die sich für jemanden öffnete, der sehr lange fort gewesen war.

2020 wurde über einen rumänischen Amazonaccount ein kleines deutsches Buch gekauft.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Christophe Maertens