keiner
© Guido Graf

Keiner kann das sehen

Glätte und Reibung 22

Glänzend, schwarz und schwach hebe ich es auf, obwohl ich diesen Anblick kaum ertrage. Keiner kann das sehen. Ich scheue davor zurück, es, dauerhaft verloren, zu berühren. Wie ein her gewehter Stein inmitten der Blätter, verloren zwar, aber Platz bietend.

An solche Steine kann ich mich schmiegen, während die Blätter nicht schützen, nicht halten oder leuchten die schwachen Spuren der Zeit, ihre Ordnung ohne Drohung oder Kohärenz, das Diskursive, die sequentiellen Statements, Sätze und Teile von Sätzen, Zeilen, die ihr Versprechen nicht halten, die ein Nein implizieren, gleichzeitig, transparent, sedimentiert, ein objektives, in Graden unausweichliches Paradies, ein System als Erweiterung all dessen, was lesbar ist. Das.

Es geht immer bergauf.
Jemand trägt den Rucksack.
Vielleicht gibt es einen Pfad.
Dann nehmen wir ihn.

Im Dunkeln, erhellt allein aus sich selbst heraus, in dem es kaum etwas zu verstehen gibt,  weil es uneindeutig sein soll, unsinnig gar, aber produktiv. Richtig schon, auch verbindlich, anwendbar und verifizierbar, d.h. grundsätzlich ambivalent, um nichts zu lernen, aber viel zu denken, weiterzudenken, selber zu denken. Also die Frage nach dem Tod, dem Vergessen, dem Schweigen, der Abwesenheit, der Gemeinschaft, dem Möglichen, einer Wahrhaftigkeit, in einem trennenden Entweder-oder und dem ausschließenden Weder-noch, dem dann ein Sowohl-als-auch folgt, das alle Unterschiede und Gegensätze kollabieren lässt.

Denn der Tod ist allgegenwärtig und hat doch keine Gegenwart. Was sich verändert und verändern soll, ist real nur dann, wenn es nicht stattfindet, und von Nutzen nur dann, wenn es nicht notwendig ist. Was droht, ist immer schon vergangen. Was nicht atembar ist, ist das, was man atmet. Die einzige Stärke ist das Schweigen, das keine Rechenschaft schuldet, das sich nicht enthüllt, hastig und vom Ende her.

Der Prozess des Schreibens ist ein Verlust, der Verlust als Schreiben die Quelle der Leere. Was den Text ermöglicht, ist eine Kaskade von Prozessen, von der Bestimmung der Idee, die ausgedrückt werden soll, über lexikalische Abrufe, die Konstruktion der Syntax und der Bestimmung der Rechtschreibung bis hin zur Erzeugung der erforderlichen Fingerbewegungen, um Buchstaben zu bilden.

Der Schreibprozess ist das Timing von Tasten- und Stiftstrichen. Ein leerer Zirkel, der sich immer zu schließen sucht, sich zu bedecken, zu verkleiden die Leere als seine Bedingung. Das, was uns ausschließt, widerfährt uns unablässig und wir wissen nichts davon. Wir werden nichts davon wissen, nichts darüber, nichts von uns, wenn wir da sind, in diesem dauerhaften Nichtmehr oder Nochnicht, weder erinner- noch fassbar, nur gestützt im Losen.

Ein Traum: Ich gehe durch faltiges Gelände, halbhohes Gras schlägt mir an die Knie. In der Ferne das Sirren einer Maschine oder einer Drohne, auch Hahnenschreie. Ich kenne mich nicht aus. Ich bin allein, verspüre keinen Wunsch nach Begleitung, mir fehlt es an nichts. Der Weg, der sich vor mir in der Landschaft abzeichnet, ist streckenweise asphaltiert und glänzt matt. Ich weiß, dass ich träume, und wundere mich im Traum über die Abwesenheit anderer Tiere.

Ich frage mich, wann ich mein Ziel erreichen werde. Aber ich habe vergessen, wohin der Weg führt, Landkarten stehen mir nicht zur Verfügung, mein Handy hat keinen Empfang. Ich spreche leise einige Worte vor mich hin, um meinen Atem an den Stimmbändern zu spüren. Dann schweige ich wieder und gehe langsam weiter, mit dem schleppenden Schritt, den ich mir in den letzten Jahren angewöhnt habe. Im Traum gibt es ein Früher, aber kein Morgen.

Nach einer Weile gelange ich an einen Schuppen mitten im Feld. Er ist aus Blechteilen zusammengezimmert, das gewellte Dach überwachsen mit einem Pelz aus Moos. Ohne Erwartungen trete ich näher, um einen Blick hineinzuwerfen. Im dämmrigen Licht kann ich nichts erkennen. Ich höre eiliges Rascheln, dann ist alles still. Vielleicht bleibe ich hier eine Weile, denke ich. Aber es gibt hier nichts zu essen. Ich würde verhungern.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Guido Graf | Pfeil und Bogen