Aprikosen

Slow Reading Club 2

Inger Christensen:
alfabet / alphabet

Am 08. November 2022 versuchten wir erstmals eine …

»… langsame Lektüre, ohne die Interpretationsmaschine anzuwerfen.«

Annette Pehnt

Was lesen wir, wenn wir langsam lesen? Wenn wir wieder lesen, immer wieder? Im Alphabet von Inger Christensen gibt es viele Wiederholungen. Wiederholungen wie Beschwörungen, wie Gebete, wie Kinderspiele …

Inger Christensen - alfabet
Inger Christensen
By Johannes Jansson/norden.org, CC BY 2.5 dk

Alba Okoye
Bin ich

Ich schreibe über alles was ich sehe was ich lese was ich bin

Ich schreibe über dich über mich über uns

Schreibe ich überhaupt wenn ich nicht bin

Bin ich überhaupt wenn ich nicht schreibe

Wer bin ich wenn man mir den Stift nimmt

Wer bin ich wenn man mich verstummen lässt

Verstummt wie das Ende einer Zeile

Wie der Punkt an dem sie endet

Was sehe lese bin ich

Was gibt es über mich über uns wenn ich es nicht festhalten kann

Dann gibt es Gedanken die die alten Zeilen hinterlassen

Bin ich?

Der Gedanke der jedem frei bleibt

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Charlotte Palatzky
waagen

die bevölkerung gibt es, die bevölkerung gibt es
 
 die protestchöre gibt es; und uns, uns
 und uran gibt es; und das erz, das erz
 
 die zikaden gibt es; schmiede, stahl,
 und verhärtungen gibt es; die zikaden gibt es,
 das zirpen, lieder, chöre, institutionen

das private gibt es, das un-; und abwenden gibt es,
 und geheimnisse gibt es; das eigenste gibt es; flüstern
 und lobbyismus gibt es; sprachlosigkeit und
 parlamente und räte gibt es, verordnungen

den kommunitarismus gibt es; die suche,
 liberalismus und technokratie gibt es; und verabschiedungen
 konflikte gibt es; spannung gibt es und streit
 und prozesse gibt es und stahl,
 schmiede gibt es und brocken

das zirpen gibt es und erlasse und verschließungen gibt es;
 verletzungen gibt es und verordnungen;
 ordnungen gibt es, expertokratien und republikanismus,
 räte gibt es, und allgemeines und deliberation gibt es;
 blut gibt es und historie; erzählungen gibt es und
 die schlosser gibt es, insekten, das besondere gibt es

autokratien gibt es; ratlosigkeit gibt es;
 uns gibt es, uns und uran gibt es,
 energie gibt es, und die suche gibt es,
 nester und trost gibt es, spüren und drücke
 das ab-;
 und das un- gibt es; das noch ni- gibt es;
 und das zu-

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Greta Sofie Müller

Die             Zeit vergeht wie die Blumen, die einst den Boden der ganzen Welt bedeckten.

New           York liegt heute verlassen

Die            Worte fließen aus mir hinaus

Reichtum   verlässt die Entstehungsquelle

Ein             Unmut tut sich in mir auf, ich verharre nicht.
 

So               trage ich eine Kraft mit mir

Und            stelle fest

Alle            Räume, die ich betrete

Sind           Quellen ihrer selbst

Ein             Patent zur Schöpfung kann nicht bestehen

Jeder         Ort wächst über sich und seinen Ursprung hinaus

Und           nichts kann ihn dabei stoppen

         (kein Mensch)

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Lio Diona
Alpha Bet à moi

Den Nachgeschmack gibt es,
von Kaffee, den Atem,
der an das Vergessen erinnert,
an das Vergessen, Kaugummi zu kaufen
und das Überlesen einzelner Worte.

Das Nachdenken gibt es,
das Fliehen vor dem Bleiben,
die Bleibe gibt es,
doch in ihr kein Netz.

Das Nachleuchten gibt es,
die erloschene Nachtblindheit,
das Gewöhnen an das Dunkle,
das Gewöhnen an den Herbst.

Die Nachwelt gibt es,
das Nachwachsen der Haare,
der Grashalme und Äste,
die alles tragen, wenn man sie nicht trennt.

Wenn es den Herbst gibt, dann gibt es auch den Tod, das Ableben, den frühen Sonnenuntergang.
Wenn es den Herbst gibt, dann gibt es auch den Tag, an dem die Sonne sich schwört, weniger zu scheinen, mehr zu rauchen, mehr Nebel am Morgen, früher schlafen zu gehen.
Wenn es den Herbst gibt, dann gibt es auch Gedichte, die versuchen, neue Worte zu finden, für etwas, das tausendfach beschrieben war. Gedichte, die neue Farben erfinden, oder Dinge, mit denen sie vergleichbar.
Wenn es den Herbst gibt, dann gibt es auch die Ruhe und den Sturm. Den Stillstand inmitten des Orkans. Das Rauschen, das unbemerkt die Blätter verteilt. Das Braun, das von unten das Laub angreift. Den Himmel in lilafarbenem Blau. Dann gibt es die Nässe, den Regen, den Tau.

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Maite Herborn

Stell dir vor, ein Mauersegler zu sein.

Flügelspannweiten konnte ich mir noch nie gut merken. Aber bestimmt groß. Bestimmt einer, der im Vogel-Quartett eine von den guten Karten wäre. Mauersegler – das hat etwas Bodenständiges, etwas Erdiges und Festes und gleichzeitig eben diese grenzenlose Freiheit des Segelns. Grenzenlos einmal mehr, weil es nicht um’s Meer geht, sondern um das Besegeln der Luft. Das Narrativ des dahingleitenden Vogels, der von oben herab die Welt unter sich betrachtet, jede irdische Größe relativieren kann, je weiter er sich der Erdoberfläche entzieht, begleitet mich schon seit meiner Kindheit. Die Vorstellung, einmal komplett rauszuzoomen, die Perspektive zu ändern, den Blickwinkel zu erweitern, um zu viel Festgefahrenheit und Seriosität entgegenzuwirken. 
Aber ich habe noch nie darüber nachgedacht, wie es wäre, tatsächlich ein Vogel zu SEIN. Wie fühlt sich der Wind auf dem Domäneradweg, der mir unten Tränen in die Augen treibt, von oben an? Ist er glatt, weich, scharf, leise, groß, klein? Wie hört ein Mauersegler? Nimmt er eher hohe Töne wahr? Oder vor allem die tiefen, vibrierenden? Hört er andere Geräusche als der Spatz auf der Erde? Juckt es ihn unter den Federn? Spürt er seine Verdauung gluckern, wenn er etwas Ungewohntes gegessen hat? Friert er im Winter? Empfindet er seine Umgebung? Als schön, dunkel, hell, wandelbar?
Dann hör auf damit.
Ok.
Aber nimm die Vorstellung mit in dein Schreiben. 
Dreißig, vierzig, fünfzig Köpfe. 
Die Augen schräg nach unten gerichtet, die Hände vor sich auf dem Tisch. Eine tippende Geräuschkulisse, gelegentliches Klappern. Von weiter weg eine rauschende Sirene, vielleicht ist es der Wind.
Im Zimmer ganz oben im hohen Haus, da können die Fenster schon einmal klingen.
Da ist die kleine Enklave im alten Gemäuer, vom wachsenden Wetter fast winddicht gemacht.

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Peter Felix Müllejans
Meins, Hier steht mein Wimpel

Der Kampf um die Seiten ist ausgebrochen, hört man auf zu schreiben, ist der eigene Text verschwunden. Unter Druck, neben Druck, mit Druck, ich fühle mich wie ein Gasventil, solange die Lok fährt, ist das ja eigentlich kein Problem. Wobei die Frage der Identifizierung am Ende nochmal aufkommen könnte, aber das ist so ein Perspektiv-Ding, wo es wie immer nur falsche Antworten gibt.

DAS HIER IST KEIN STREAM OF CONSCIOUSNESS, das ist durchdacht und hat somit Wert.

DAS HIER IST KEIN STREAM OF CONSCIOUSNESS, das ist durchdacht und hat somit Wert.

Heute ging es um Aprikosenbäume und Brom, Brom im Altgriechischen lässt sich mit Gestank übersetzen, sagt zumindest Wikipedia. Ob es da einen tieferen Zusammenhang gibt, überlasse ich dem Wahnsinn.

Nie aufhören zu schreiben, ich habe die Drucksituation vom Anfang unterschätzt. Ventil geplatzt. Wobei man ja zugeben muss, dass Druck hier sehr relativ zu gebrauchen ist. Es will mich ja niemand mit Brom vergiften. Seltsam am Brom hängenzubleiben, ich muss mich wohl aktiv dagegen entscheiden und zu den Aprikosenbäumen gehen, ist das eigentlich narzisstisch, sich nicht mit einem zu begnügen?

Vielleicht gehe ich also lieber zu dem Aprikosenbaum.

Vielleicht ist es mein Aprikosenbaum.

Vielleicht muss man aber auch seinen Aprikosenbaum teilen lernen.

Vielleicht bin ich ein Aprikosenbaum.

Vielleicht sollte ich nicht mehr mit vielleicht anfangen.

Aber ich habe ja auch keinen Garten.

Mittlerweile habe ich bei drei Menschen versehentlich reingeschrieben und meinen Text zweimal verloren, gute Ausbeute. Entschuldigung, Antonia, es geht nicht kürzer. Ich habe es wirklich versucht.

Seltsam, dem Text nicht beim Wachsen zusehen zu können, weil konstant die Seite springt, ist so eine Zugfenster-Erfahrung, nur mit mehr Repetition, also eher das, was der Zugführer sieht. Gleise um Gleise. Bahnhof um Bahnhof, am Ende immer die gleiche Heimat. Menschen schreiben, Texte wachsen, meiner auch, der ist ja mein Ausgangspunkt, aber man ist auch bei den anderen dabei, fragt sich, wohin die so fahren, verweilt, liest kurz, ironischerweise eher kein Slow-Reading, man will ja selbst vorankommen. Der Aprikosenbaum scheint Eindruck gemacht zu haben, vielleicht finde ich ja mal einen, der stinkt.

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Philip Nicholas Hart
I CRY IN DADA

Das Geräusch von kritzelndem Buntstift übertönte meist den Streit im Nebenzimmer. Nur wenn er den Stift wechselte, zwischen den Farben konnte er die Worte seiner Eltern hören. Von gelb letzte Woche hast du noch gesagt, du würdest das machen und jetzt zu rot. Von rot zu ich hab dir tausend Mal gesagt, dass ich schwarz.

Als seine Eltern sich trennten und sein Vater die Stadt verließ, malte Henry seiner Mutter ein detailreiches Buntstiftbild, an dem er sieben Stunden, ohne zu essen oder zu trinken, gesessen hatte. Da war er 12 Jahre alt.

Henrys Mutter machte OOOO und AAAAA, als er ihr das Geschenk überreichte. Die Vokale klangen unter ihrer Depression wie Henry sich einen Holzstuhl vorstellte, über den man einen Perserteppich geworfen hatte. Sie hängte das Bild an den Kühlschrank, aber nicht aus Liebe, wie sie sagte. Sondern, weil er Talent habe.

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Sönke Niebuhr

die Brombeeren gibt es
die Beeren gibt es
das Brom
gibt es

die Erdbeeren gibt es
die Beeren gibt es
die Erde
gibt es

die Johannisbeeren gibt es
die Beeren gibt es
Johannis
gibt es

die Himbeeren gibt es
die Beeren gibt es
der Himmel
gibt es

die Stachelbeeren gibt es
die Beeren gibt es
die Stachel
gibt es

den Sanddorn gibt es
die Dornen gibt es
und der Sand
gibt es

die Blaubeeren gibt es
die Beeren gibt es
das Blau
gibt es

die Braunbären gibt es
die Bären gibt es
das Braun
gibt es

die Preiselbeeren gibt es
die Beeren gibt es
die Preisel
gibt es

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Sophia Schweiger
Es gibt dich

Es gibt dich und mich, es gibt uns
Uns gibt es

Es gibt ein Du, es gibt ein Ich
Es gibt ein Wir
Wir geben uns

Du gibst mir, ich gebe dir
Wir geben uns, es gibt uns
Es gibt sie, sie geben uns nichts
Wir geben einander, es gibt sie
Aber sie geben uns nichts

Es gibt dich, es gibt mich
Was geben wir uns?
Es gibt sie, sie geben uns nichts
Sie geben ihre Gaben weg
Vergeben, es gibt sie nicht, vergeblich
Manchmal frage ich mich, gibt es uns?
Oder gibt es nur
was wir einander geben?

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Bilder mit freundlicher Genehmigung von Kai Simanski | Pfeil und Bogen, Inger Christensen und Johannes Jansson