Es handelte sich um einen stürmischen Mittwoch Nachmittag. Drei Kommiliton*innen setzten sich zusammen, jede*r mit einem Stück (veganen) Käse bewaffnet. Auf einem Tisch zwischen ihnen lag ein Bilderbuch. “Ein Stück Käse” von Judith Auer. Ein Gespräch begann:
A: Also Leute: Wir haben uns heute hier zusammengesetzt, um über dieses Buch zu reden. Was sind eure ersten Eindrücke?
B: Das Buch hat definitiv ein wenig Zwiespalt bei mir erzeugt! Meine ersten Eindrücke waren noch sehr positiv, aber je länger ich auf der “Jagd” nach Referenzen und tiefer liegenden Teilen war, desto mehr war ich erschöpft von den für mich zu unzugänglichen Referenzen.
C: Was meinst du mit unzugänglichen Referenzen?
B: Referenzen bei denen ich mir gar nicht sicher war, ob es wirklich welche waren. Ich weiß gar nicht, ob das Buch mir vielleicht noch etwas ganz anderes erzählen wollte, weil ich zwar Hinweise auf andere Werke hineinlesen kann, aber im Unklaren darüber bleibe, ob dies gewollt war.
C: Hmmm, mein erster Leseeindruck war in etwa so: ich mochte die Haptik des Buches, das raue Papier, das viele Weiß, also den Schnee. Ich fand die Illustrationen sehr atmosphärisch. Ich glaube, die Farbigkeit, das wiederkehrende Blau im Wald, in den Fuchszähnen, den Fußstapfen sowie das Fantastische daran machten für mich diese Atmosphäre aus. Für meinen Geschmack, eine in sich stimmige Ästhetik, die die Illustratorin durchzieht.
A: Das ist ja interessant. Wir haben eine zwiegespaltene Stimme und eine positive Stimme. Ich persönlich muss sagen, dass mir das Buch nicht so stark zugesagt hat. Lasst uns etwas diskutieren! Vielleicht war ich nur etwas enttäuscht, weil ich mich so sehr auf die Geschichte gefreut habe. Schließlich basiert sie auf einer von Äsops Fabeln, die ich als Kind immer gerne gelesen habe. Unter den Fabeln war auch die vom Fuchs und Raben.
Die Geschichte ist ja relativ bekannt. Der Fuchs hat ein Stück Käse gefunden und der Rabe versucht es ihm mit einer List abzuluchsen.
Wollen wir vielleicht damit beginnen? Wie die alte Fabel mit ihrer Moral adaptiert wurde?
B: Sicher! Umgezogen sind wir ja in eine kalte Schneelandschaft, vermutlich irgendwo im Norden, wo wir lange in blauen Nadelwäldern weg von Menschen bleiben. Für mich und den alten Griechen Äsop ein großer Umzug und ein Bruch mit meiner Vorstellung – aber kein negativer Bruch! Der flächige Schnee, die einsamen Wälder, das sind alles Bilder, die ich gerne angeguckt habe und die ein gutes Maß aus beruhigendem Weiß und langsam ansteigender Spannung gefunden haben. Dennoch habe ich mich schwer getan, den Grund für diese Veränderung zu finden – außer natürlich einem großen Faibel für die kalte Jahreszeit.
A: Warum denkst du, sind wir in den kalten Schnee umgezogen, C?
C: Vielleicht ist das überinterpretiert, aber das Weiß, der graphische Weißraum ist doch immer auch eine leere Fläche, in der viele Assoziationen und Verknüpfungen Platz haben.
B: Oder vielleicht als eine Zuspitzung der Situation? Die Motivationen der Figuren werden viel extremer, wenn es um den Überlebenskampf im Winter geht?
A: Das ist aber auch die einzige Sache, die vom Original abweicht, oder?
B: Ja, generell hat mich außer dem Schnee nicht viel in dem Buch überrascht. Ein größeres Spiel und bei den Figuren vielleicht auch ein wenig mehr Distanz zum Original hätte ich viel spannender gefunden.
C: Da stimme ich zu. Ich fand zum Beispiel schade, dass die Charakterisierung der Figuren bei den bekannten Eigenschaften geblieben ist. Der Fuchs schlau und listig, der Rabe eitel.
A: Ja, das würde ich auch befürworten. Schließlich ist die Fabel ziemlich kurz und wenn man sie bereits kennt oder einfach auf etwas mehr Variation hofft, kann das Buch nicht viel bieten.
C: Allerdings finde ich, dass die Stärke des Buches die Illustration ist. Auf bildlicher Ebene gibt es vielleicht doch mehr Variation, als auf den ersten Blick sichtbar. Ich fände es spannend, nochmal auf die Bildreferenzen beziehungsweise die unzulänglichen Referenzen einzugehen. Was habt ihr für Anspielungen gefunden?
B: Also mich haben die Illustrationen häufig an andere Werke erinnert, aber ich konnte nur selten sicher sagen, an welche Werke sie mich erinnert haben. Was mir aber besonders im Gedächtnis geblieben ist, ist die Figur des Fuchses. Kurz vor Ende ist sein Kopf leicht nach oben geneigt und das Maul geöffnet, der Körper besteht da vor allem aus harten Ecken und Kanten.
Diese Härte der Kanten und auch der Winkel in dem der Kopf dargestellt ist, haben mich unfassbar an den rot lackierten Stahl der Skulptur “Red Dog for Landois” von Keith Haring erinnert. Eine Skulptur, die als sie Ende der 1980er zum ersten Mal gezeigt wurde, nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit finden konnte. Seht ihr auch die Ähnlichkeiten zwischen Fuchs und Hund und könnt ihr euch vorstellen, wie der “unbekannte” rote Hund seinen Weg in unser Bilderbuch finden konnte?
A: Die Ähnlichkeit sehe ich auf jeden Fall, aber einen Sinn dahinter kann mich mir vorerst nicht erschließen.
C: Ich habe gehört, dass der “Red Dog for Landois” als Protest gegen den Neubau einer Bank gelesen werden kann. Dafür musste ein zoologischen Garten weichen. Der rote Hund bellt dieses Bankgebäude an.
A: Tatsächlich? Das wusste ich nicht. Es wäre spannend zu überprüfen, ob diese Verbindung gewollt war. Ich muss aber auch sagen, dass mir diese ganze Seite wirklich nicht zugesagt hat. Einfach nur der Fuchs und sonst nichts anderes. Sie wirkte so leer.
C: Ich mag genau dieses Fuchs-Bild, ich finde es stark, genau weil es so flächig und reduziert ist. Die Leere habe ich nicht als störend empfunden.
B: Daneben erzählen die Illustrationen ja auch ihre eigenen kleinen Geschichten: Wir können die grüne Wildschwein-Familie auf dem Weg durch den Schnee beobachten, das gelbe Eichhörnchen, das sich schüchtern vor uns hinter der Tanne versteckt oder Tiere, die ich nicht einmal zuordnen könnte. Dieses Eigenleben habe ich sehr gerne verfolgt.
C: Genau, es hat etwas Pluriszenisches. Als ob es neben der Fabel auch noch um den Lebensraum einer Tiervielfalt geht.
A: Die Bilder sind wahrscheinlich Geschmackssache. Mir haben die großen, weißen Flächen und diese Blautöne sehr wenig Platz zum Erkunden gegeben. Die meisten Bilder, die keinen Waldausschnitt zeigen, haben nur ein einziges, großes Motiv, an dem man nur wenig Zeit verbringen kann. Ich weiß nicht, ob das Kindern so lange Spaß macht.
C: Kinder und ihre Geschmäcker sind ja sehr unterschiedlich, und ich denke, dass die Lesebedürfnisse von Kindern, genau wie bei Erwachsenen, von deren Stimmung abhängen. Mal ist da die Lust auf Details, auf übervolle Bilder, in denen man immer was Neues entdecken kann, mal brauchen die Augen eher Ruhe und viel Fläche.
A: Da hast du wohl recht. Aber auch abgesehen von den Zeichnungen konnte mich das Buch nicht überzeugen. Ich habe mir immer wieder kritische Fragen stellen müssen. Wie beispielsweise die Frage, ob es geschickt ist, diese Fabel mit der Moral als heutiges Kinderbuch aufzuarbeiten. Jede der Fabeln von Äsop hat ja eine Lehre. Hier ist es “Hüte dich vor falschen Schmeicheleien”. Mir persönlich hat diese eine Moral nicht ganz für das Buch gereicht. Außerdem: Ist das wirklich etwas, was man 4-Jährigen beibringen muss?
C: Heißt das, du hättest gerne mehr Moral gehabt? Wie meinst du nicht gereicht?
A: Natürlich können diese Geschichten auch alleine stehen, einfach als schöne Erzählungen, aber ich denke, der Grund, weshalb sie wieder und wieder erzählt werden, sind die Lehren am Ende. Zeitlose Lebenshinweise, die man sich zu Herzen nehmen kann. Ich habe damals die Fabeln in Sammelbänden gelesen und war schon etwas älter – so ca. sieben bis zehn Jahre alt oder so – und konnte mir aussuchen, welche Moral ich als sinnvoll und welche ich als eher unwichtig bewertete.
Und besonders als Buch, welches wohl eher für Jüngere gedacht ist, finde ich es merkwürdig, so eine Moral von Schmeichlern in den Mittelpunkt zu stellen. Für mich wäre eine stärkere und vielleicht auch für den Lebensabschnitt relevante Moral nötig gewesen.
C: Aber ist es wichtig, dass Bücher eine moralische Botschaft vermitteln? Ich finde, Pädagogik gehört nicht zwingend in die Literatur, und gerade die Kinder- und Jugendliteratur ist damit schon sehr “belastet”. Besonders in ihren Anfängen, wie zum Beispiel “Struwwelpeter” oder die “Mädchenliteratur” des 19. Jahrhunderts.
Ich finde, bei Adaptionen älterer Texte, insbesondere Fabeln, die ihre Lehren sehr explizit in sich tragen, ist ein bewusster Umgang mit dem moralischen Zeigefinger wichtig.
B: Dennoch würde ich mich nicht gänzlich gegen Moral in der Kinderliteratur aussprechen. Was wir lesen, formt uns. Literatur kann eine gute Unterstützerin für junge Leser*innen sein, um die Welt um sie herum besser oder aus anderen Perspektiven verstehen zu können. Ich muss zugeben, dass ich also beide eurer Argumentationen gut verstehe!
A: Da kann man sich wohl lange darüber streiten. Wie über das gesamte Buch. Vielleicht können wir zusammenfassen, dass die Bilder des Waldes sehr interessant gearbeitet sind. Große Flächen lassen Freiheit für Assoziationen und Atmosphäre, können aber je nach Geschmack auch negativ bewertet werden. Wenn man möchte, kann man sich auf Referenzjagd begeben. Wo man dabei rauskommt? Unklar, kann aber auf jeden Fall Spaß machen.
Die Moral “Hüte dich vor falschen Schmeicheleien” ist impliziert. Wie man dies bewerten möchte, ist jedem selbst überlassen. Persönlich würden wir uns alle etwas mehr Abweichung von der originalen Fabel wünschen. Ob dieser Käse schmeckt, kann man nicht pauschal sagen. Der Nachgeschmack scheint bei uns allen anders zu sein.
Damit war der Käse aufgegessen. Die Gruppe trennte sich.
Ein Text von: E. Legeips, Anna Volmering, Malte Wegner.