Alles neu für Kanin

Schon vor Wochen hatte Mama Kanin den Eingang zu ihrem Bau sorgfältig mit Gras und Blättern verschlossen und Erde darüber gescharrt. Sie hatte sich lose Büschel aus ihrem Fell gezupft, um den Innenraum damit auszukleiden. Das Junge, das sie schließlich gebar, lag nun warm und weich in dem errichteten Nest. „Willkommen auf der Welt, mein Kanin“, sagte Mama Kanin und schleckte ihrem Baby über den rosigen Kopf. Das Kanin konnte seine Mama noch nicht sehen oder hören, aber sie und der Bau rochen gut nach Milch und Geborgenheit und das war genug.

Als das Kanin ein paar Tage alt war, begann es die Ohren zu bewegen und wieder ein paar Tage später öffnete es seine Augen. „Hallo, mein Kanin“, sagte Mama Kanin und lächelte. Bald stupste sie das Kanin das erste Mal ein Stück weit aus dem Nest, aber nach ein paar Schritten schlüpfte es wieder unter Mama Kanins Bauch. Immer wenn das Kanin so unter ihrem Bauch lag, erzählte sie ihm von den Erdlöchern der anderen Kaninchen und den Dingen, die darüber hinaus existierten. Und das Kanin, dessen Vorstellung gerade einmal bis zur Wand gegenüber reichte, lauschte diesen Geschichten mit wippenden Ohren und freute sich auf den Tag, an dem die Bilder in seinem Kopf den Weg ins echte Leben finden würden.

© Alina Rothmeier

In einem Bau unter der Erde ist es immer ziemlich dunkel, das Kanin wurde daher jeden Morgen von seiner Mama geweckt. Weil es irgendwann von Milch nicht mehr wirklich satt wurde, begann das Kanin, sich zum Frühstück einen Bund Radies mit seiner Mama zu teilen. Die verließ das Nest danach für einige Zeit und kam erst abends wieder zurück. Kurz vorm Schlafengehen erzählte sie dem Kanin noch ein Mär, bevor es sich dann an ihren Bauch kuschelte und sie die Augen schlossen.

An diesem Tag war alles anders. Das Kanin hatte sich noch nicht einmal den Sand aus den Augen gerieben, da trommelte Mama Kanin schon ungeduldig mit den Pfoten. „Los jetzt“, sagte sie. „Die Sonne geht gleich auf.“ Das hört sich schrecklich wichtig an, dachte das Kanin und beeilte sich, aus dem Nest zu kommen.

Vor dem Bau begann ein Gang, an dessen Ende das Kanin in weiter Ferne einen Lichtschimmer erkannte. Es spürte Mama Kanins Nase an seinem Schwänzchen, die das Kanin liebevoll, aber bestimmt ins Halbdunkel schob. Gemeinsam hoppelten sie dem Ausgang entgegen.

Als sie das Ende des Tunnels erreicht hatten, drückte sich Mama Kanin am Kanin vorbei nach draußen und sah sich in alle Richtungen um. Dann rief sie ihr Junges zu sich. Das Kanin machte zaghaft ein paar Schritte auf sie zu. Erst als es bei ihr angekommen war, traute es sich, den Kopf zu heben. Wo sonst zu allen Seiten, unter den Zehen und über den Ohrspitzen Wurzeln und Erde den Kaninchenbau begrenzten, hatte das Kanin nun so viel Platz, wie es sich nicht hätte vorstellen können. Über seinem Kopf spannte sich ein milchiges Tuch auf, unter seinen Pfoten piekten Grashalme. Das Kanin konnte nach vorne so weit schauen, wie noch nie in seinem Leben, am Horizont leuchtete eine helle Scheibe von hinten durch das Tuch. Das musste die Sonne sein.

Bald darauf sah das Kanin das erste Mal die anderen Kaninchen, von denen Mama Kanin schon so viel erzählt hatte. Eine ganze Gruppe von ihnen kam heran und das Herz des Kanins pochte vor Aufregung. Seine Ohren hatte es sich über die Augen geklappt. „Schau doch“, sagte Mama Kanin. „Willst du nicht mit ihnen spielen?“

Und das Kanin fasste sich ein Herz und sprang in Richtung der Kaninchenkinder.

„Hallo, ihr“, sagte das Kanin, als es vor den anderen angekommen war. „Ich würde gern mitmachen. Habt ihr noch Platz frei für ein Kanin?“ Sein linkes Ohr fiel schon wieder ein Stück nach vorn.

„Das ist nicht so einfach“, sagte eines der Kaninchenkinder und schaute verlegen rüber zu seinen Freunden. „Wir spielen nur mit richtigen Kaninchen, weißt du?“

Das Kanin blickte fragend drein und rümpfte die Nase.

„Aber ich bin doch genau wie ihr“, antwortete es und klang ein wenig empört.

Die anderen Kaninchenkinder lachten, erst das eine und dann alle anderen mit.

„Nicht doch“, sagte das Kaninchen und schüttelte eifrig den Kopf. „Du bist ein Kanin und mit Kanins spielen wir nicht.“

Das Kanin wurde traurig und wollte gerade auf den Pfoten kehrtmachen, als ihm einfiel, was seine Mama ihm schon so oft gesagt hatte.

„Wisst ihr”, sagte es in Richtung der Kaninchen und seine Ohren standen jetzt ganz gerade nach oben. „Bloß weil ich nicht so heiße wie ihr, bin ich doch nicht gleich anders oder weniger gut.” Das Kanin blies die Backen auf, streckte den Kaninchen sein Schwänzchen entgegen, wackelte damit und drehte sich dann wieder nach vorn. „Schaut, alles gleich!” Einige Kaninchen hatten neugierig den Kopf schief gelegt. „Und überhaupt, ich bin doch kein -chen! Groß bin ich vielleicht nicht, aber großartig, das hat Mama gesagt. So klein wie ein -chen kann ich also nicht sein.”

Die Kaninchen waren inzwischen ganz nah an das Kanin herangekommen.

„Ich würde auch gern großartig sein”, sagte eines von ihnen zum Kanin. „Wie machst du das?”

„Da gibt’s keinen Trick”, antwortete das Kanin. Seine Stimme klang gar nicht mehr so wackelig. „Du bist es einfach, wenn du das sagst. Aber ein Kanin zu sein ist schonmal ein guter Anfang. So kann dir keiner sagen, du wärst zu klein für irgendwas.”

„Und wie werde ich ein Kanin?”

„Da gibt’s keinen Trick. Sei es einfach.”

Abends, als sich das Kanin und seine Mama in ihrem Nest zum Schlafen eingerollt hatten, hingen Kanins Ohren wieder müde nach unten. „Wie war dein Tag?“, fragte Mama Kanin.

Das Kanin gähnte und streckte die Pfoten aus. Ganz schwer waren sie, so lange war das Kanin mit den Anderen um die Wette gerannt.

„Ich habe eine Gruppe Kaninchen kennengelernt und mich nach dem Spielen von einer Gruppe Kanins verabschiedet.”

Mama Kanin lächelte und zog ihr Junges ganz fest an sich.

„Das klingt großartig“, sagte sie und dem Kanin fielen die Augen zu.

 

Bilder mit freundlicher Genehmigung von © Jelena Kern und © Alina Rothmeier