schwindel
© Guido Graf

1 Schwindel und die Hand im Feuer

Glätte und Reibung 11

Ein Loch im Schwindel, zehn Jahre matt und kipp, sag Iltis zu mir, ich bin jung, das Felsenbein zerstoßen, ab ins Ohr, litt es gern, und doch, weiße Versuche, blauer Puder, Kirschplakat wispert, die Wäsche weint, war das einsam, nur Straßen voneinander, die Vernarrung fast sofort und die Buchstaben gelöst, um mich Salat, die bleichen, dicklichen Männer, die paar lasse ich dann weg (logical harm), den Eisenaffen, was leicht bleibt, unterkühlt aus eigenem Fond wird’s wundergrob, episch, unbrechbar, wer sind die in Kreiselfeldern und Kragen, den Hasen in die Tonne, was kann ich machen, was ab, was war und was schwarz und rund, reckt sich vor, bläht sich, hört zu, ein fettes Räkeln, weiß sickert das, Puder, ich bin es.

Normkonflikte zwischen vergeblich behaupteter Objektivität und ebenso vergeblich eingeforderter Subjektivität werden wir nicht austragen. Es gibt die Machtverhältnisse, die Abhängigkeiten, die Alters-, Geschlechts- und Generationsunterschiede, die ökonomischen Verhältnisse, die Kontrolle über die Normen. Und es gibt das Wissen über deren Instabilität, die Unterfinanzierung, die schwierige Planung, die Überforderung der Kapazitäten, über die befristeten Stellen, über individuelle Härtefälle und Konflikte und vieles andere mehr. Nichts, was man gegeneinander ausspielen kann, was zugleich aber alles zerdehnt und Atem und Respekt dünn werden lässt. Und dazwischen noch viel Raum für Unverständnis.

Ich betrete einen Raum: weiße Rauhfaser, Laminat, kein Mobiliar. Die Fenster sind geschlossen, von der Straße dringt kein Geräusch zu mir. Man hat mich hierhergeschickt, um etwas abzuholen. Aber hier ist niemand. Und ich habe vergessen, was ich abholen sollte. Ich habe auch vergessen, von wem mir der Auftrag erteilt wurde. Ich weiß nur, dass ich nicht schuld bin. Ganz sicher habe ich das nicht zu verantworten. Denn ich will mir ja nicht die Finger verbrennen. Ich halte für niemanden den Kopf hin. Lege für niemanden die Hand ins Feuer.

Wer auch immer mich in diesen Raum geschickt hat, wird seine Gründe gehabt haben. Also setze ich mich auf den staubfreien Boden, schließe die Augen, so wie ich es gelernt habe, und atme solange tief durch, bis man mich benachrichtigt. Dann werde ich frisch ausgeruht und bereit für den nächsten Schritt sein. Ich will ja niemanden enttäuschen. Ich bin dynamisch, engagiert und aufgeschlossen. Und das sage ich auch gern nochmal laut. Falls mich jemand hört.

Für uns selbst. Für junge Frauen und Männer, für BIPOC, die alte Fronten reproduzieren, die berechtigte Forderungen formulieren und nichts von den Möglichkeiten wissen, die sie längst haben, aber nicht ergreifen und statt dessen nach deus-ex-machina-Instanzen rufen, die alles regeln sollen. Aber wir können etwas tun. Wir können vermeiden, ruchlos zu sein, beleidigend und verletzend, frei in der Wahl der Worte, genau im Detail, aber nicht diskriminierend. Moralische Überlegenheit muss niemand demonstrieren, immer aber Adressierungen diskursfähig machen. Wir können Furcht zulassen, Vorbilder sein, einfach mal lassen, zeigen, wie man selbst etwas hinbekommt, zeigen, wie man anderen etwas zeigt.

Wir sind dynamisch, engagiert und aufgeschlossen. Ich stelle mir vor, dass jedes Wort in diesem Satz stimmt. Wie sollte es. Fishing for Mitleid im bunttrüben Alltag. Die gleichen blöden Alltagsdummheiten, die erst aus der Distanz von ein paar Stunden als solche sichtbar werden. Genauso wie man sich zu seinen Kindern nie so verhalten wollte wie der autoritäre Vater und dann doch wieder nur in die Tischkante beißen kann.

You ol’ fool.

Da wie in unseren diskriminierenden Strukturen, die eben vor allem Machtverhältnisse sind, geht es nicht um ein Entweder-Oder, sondern immer wieder um einen neuen Anlauf. Immer wieder mal ein lichter Moment macht die Sache für alle Seiten dynamischer, engagierter, aufgeschlossener. Denn wir arbeiten ja zusammen und beweisen, dass relevant erst wird, was man teilt, und wir können wissen, was ein Nein ist, wir können dazwischen gehen, wenn jemand intolerant spricht, wir können noch mehr lesen, wir müssen uns nicht verstellen. Kollaboration ist keine Norm, aber die Regel. Das kann man lernen, ohne Individualitäten und ihre Kreativität banalisieren zu müssen. Und das ist Alltag, meistens, die dummen, die demütigenden und die guten Strukturen allesamt eingeschlossen.

Sensibilisiert können wir sein und lernen, dass wir nicht einfach nur da sind, sondern mit einer konkreten Geschichte und mit einem konkreten Raum mit Kreuzungen, Verknüpfungen und Konfrontationen, der für – immer wieder  – eine Weile mehr ist als die Summe seiner Teile: „A true home is the place — any place — where growth is nurtured, where there is constancy.“ Ist Ungerechtigkeit ein Projekt, ein Schwindel? Und sind Klagen und Forderungen dessen Form? Sind folglich individualisierte Ungerechtigkeiten, vermittelt durch Erzählungen, leichter zu ertragen? Und verstellen die Erzählungen den Blick auf das, was sich längst – bastelnd – verändert hat?

Die Märklin meines Bruders war eine gebastelte Welt. Er war acht und der Regisseur. Alle Entscheidungen lagen allein bei ihm. Den Keller, wo die Märklin neben der Waschmaschine und den Regalen mit den Winterschuhen aufgebaut war, betrat sonst niemand. Wenn Wäsche zu waschen war, stellte die Mutter den Korb neben die Treppe. Mein Bruder lernte, die Maschine zu befüllen, das richtige Programm zu wählen und die Wäsche nach dem Schleudergang wieder nach oben zu tragen. Das war der Preis, den er für seine Welt zahlte. Er war ein sorgsamer Landesvater in seinem einsamen Reich. Jedes Haus war elektrifiziert. Die Bahnhöfe waren auch nachts beleuchtet, die Hauptverkehrsachsen ebenfalls.

Die Menschen hatte er in sinnvollen Gruppen angeordnet. Im Sägewerk wuchteten Arbeiter Holzstämme auf Lastwagen. An der Kirche segnete ein winziger Pfarrer ein Brautpaar. Es herrschten vier Jahreszeiten gleichzeitig. Am Berghang des kleinen Gebirges lag immer Schnee, und Kinder zogen ihre Schlitten bergauf. Neben dem Fußballplatz, den mein Bruder sorgfältig mit Zuschauertribünen und einem Parkplatz ausgestattet hatte, standen hungrige Sportsfreunde an der Grillbude Schlange. Niemand drängte sich vor. Die Züge umrundeten mit schöner Regelmäßigkeit dieses friedliche Land. Der junge Herrscher war an ständiger Verbesserung interessiert.

Er investierte sein Taschengeld in neue Lokomotiven, aber mehr noch lag ihm das Wohl seiner Welt am Herzen. Sein Spiel bestand in täglicher Verbesserung der Verhältnisse. Die Obstbäume schmückte er mit winzigen Äpfeln und Kirschen aus Fimo. Ein Schornsteinfeger sorgte für glückliche Augenblicke. Kühe und Pferde weideten einträchtig und dicht gedrängt auf den gleichmäßig eingestreuten Wiesen. Niemand fiel aus dem Rahmen.

Das Gebüsch war aus Gummi und fühlte sich feucht an. Eine Tüte Gebüsch kostete zwei Mark. Moos oder andere Naturmaterialien lehnte mein Bruder ab. Unter der Platte hing ein Gewirr von Kabeln, Steckern und weiterer Elektrik. Mein Bruder hockte dort und suchte nach Fehlern, in der Hand das Buch ‘Modellbahn: Elektrotechnik’ aus der Stadtbibliothek. Er hätte sich niemals als Bastler bezeichnet, sondern verstand sich als Ingenieur. Das ist er dann später auch geworden.

Im Schwindel

Ist, – unadressiert – Diversität zu fordern, bequem für die Fordernden? Gleichheit verlangt mehr, anderes. Wir neigen dazu, unsere Spuren zu verwischen. In Bezug auf Fehler, die wir begangen haben, wie auch auf Schmerzen, die wir erfahren. Gute Vorsätze müssen die Verunsicherung ausgleichen, die entsteht, wenn man beginnt zuzuhören. Und dann die eigene Geschichte rekonstruieren. Das sind Geschichten und sie sind geklaut: „Wenn ich schwach bin, bin ich stark.“

Im Schwindel Wohnung nehmen.

(Inger Christensen)

Wir Sterblichen haben keine Eigenschaften, es sind nur unsere Fehler. Fehler als Prothesen. Ständig suchen wir nach Qualitäten, um unsere Zeit zu suchen, ein Zuhause. Das ist der Fehler, mit dem wir tadeln und identifizieren. Statt daraufhin zu arbeiten, keinen Ursprung zu haben, nur fehlerhaft zu sein, mit Fehl etwas zu werden, das immer weniger ist und nicht mehr, als Gesetz.

Wir wären ohne Qualitäten und müssen uns nicht darüber verständigen, was unsere Bestimmung wäre. Tatsächlich aber stellen wir eine Gefahr füreinander dar, vernichten uns, schreiben unsere Gefühle in alle Seelen ein. Schwindel, Scham, aber keine Zurückhaltung, kein Maß, sondern ein Gefühl der Endlichkeit, gebrechlich und hinfällig wie wir sind in dieser nichtigen Faktizität.

Die Scham, die keine Grenzen kennt, weil wir Diebe sind, verschlagen, Kreaturen des Schwindels. An was könnten wir uns so erinnern, an was für Gaben, Formeln, Tode, die wir jetzt übersetzen? In vorgebeugter Spannung, mit fallenden Giften und, wo Wünsche zucken, ein Gramm Ringe unter den Augen. Dort kenne ich die Kirschflecken und Hügelspieße und, wo die Bäume umfallen, die Bienen und die Hirsche, wo es mir in der Milz knirscht, in Ketten gefaltet und ohne Untertitel. Wir gehen zu Boden. Unser Auge ist nicht trainiert für den Übergang, für das Dazwischen, die Unschärfen.

Irgendwann entschieden die Generäle, der Krieg lasse sich nicht mehr vermeiden. Ma habe eine Grenze überschritten, hinter die man nicht mehr zurückkehren könne. Man müsse nun sein Gesicht wahren und könne sich nicht länger vorführen lassen. Man müsse jetzt eine klare Ansage machen, das sei ihm, dem Herrscher über Krieg und Frieden, doch sicher auch klar. Sweeney schaute in die Gesichter seiner Berater, länger als es sich geziemte. Sie wandten den Blick ab, sprachen aber weiter. Die Beschlüsse waren bereits gefasst, die Truppen abrufbereit, die Gerätschaften bereitgestellt, der Krieg konnte beginnen. Eure Hoheit, wir warten nur noch auf Euer Signal.

Da spürte Sweeney, wie seine Gliedmaßen zu beben begannen. Seine Füße ruckten auf dem Boden, seine Hände fingen an zu zucken. In den Waden spürte er heftiges Muskelreißen, er sprang auf, so plötzlich, dass die Generäle zurückwichen und leise zu raunen begannen. Vielleicht vermuteten sie eine kriegerische Erregung, jemand hielt ihm das Wachs hin, damit er die Kriegserklärung endlich mit dem königlichen Stempel versiegeln könnte. Aber Sweeney sah nicht mehr, was um ihn herum geschah. Er wich mit starrem Blick zurück, sein ganzer Körper in Aufruhr, sein Gesicht nach hinten geworfen.

Den Mund hatte er aufgerissen, der Kopf pendelte hin und her. Majestät, was ist Euch, riefen die Umstehenden, sie befürchteten einen Anfall oder Ausbruch, und rasch sprang jemand vor und drückte Sweeneys Daumen in das heiße Wachs, das sie rasch auf die Urkunde geträufelt hatten, damit die Entscheidung getroffen und der Krieg begonnen werden konnte.

Sweeney war von Sinnen, die Arme schlackerten ihm aus den Schultern, er taumelte und wich zurück, und während alle noch leise berieten, was mit dem König zu tun sei und ob man den höfischen Heiler herbeirufen oder doch besser die Situation nutzen solle, um die ersten Truppenbewegungen ungestört auf den Weg bringen zu können, war Sweeney in den hinteren Gemächern verschwunden, man hörte ihn aufheulen, dann entfernte sich das Gejaule, und die Generäle veranlassten die notwendigen Schritte.

Der Krieg wurde erklärt. Noch während die erste Hundertschaft ihre Pferde sattelte, rannte Sweeney mit nackten Füßen und pfeifendem Atem durch die Parks, durchquerte die hinteren Gärten, schlug sich ins Unterholz, streifte die Kleidung ab und kletterte, als er endlich den dichten Wald erreicht hatte, in die Baumkronen, die er bis zu seinem Lebensende nicht mehr verließ.

Eine große, starke Grenze zu ziehen, lässt wenig Raum für den Schwindel und für die Zeit danach. Was weitergehen soll, sieht erstmal aus wie eine Niederlage für die vor sich Hinschabenden, die grünscheinigen Nasengekränkten, die Angeknickten, die demontierten Sensorien, die drängeln und gleichzeitig alles zu regeln versuchen. Wir könnten unseren Augen trauen und etwas rauspulen aus dieser Geschichte. Die Schmerzen, das Licht, die Nachrede, die Komplexitäten.

Wir können unseren Augen nicht trauen. Die Fehler, die falschen Freunde, die anderen, die wir ausschließen, die Bündnisse, die nur für den Augenblick geschlossen werden, um Individualitäten nicht einzuschränken, die Opfer, die immer größer sind als deine, die Gefühle, die nicht immer recht haben. Was uns verletzt, lässt uns verlieren, was wir gemein haben, was wir reparieren müssen, was wir also kritisieren. Mein Finger on the trigger for the years to come.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Guido Graf | Pfeil und Bogen