violettblau
J Verhaegen / Public domain

violettblau

Ich bin überzeugt, letztes Jahr um diese Zeit aus Versehen ein unschuldiges Lebewesen getötet zu haben. Da war ich für ein paar Wochen allein im Haus, habe meine Bachelorarbeit geschrieben und in der Dämmerung regelmäßig einen bekifften Rundgang über die Felder gemacht. An dem Abend war die Mondsichel fein wie die Einkerbung eines Fingernagels und im violettblauen Licht der untergehenden Sonne schon deutlich sichtbar, sodass es sich, wie so oft an diesem Ort, anfühlte, als sei ich auf einem fremden Planeten, einer Welt, die noch in Ordnung ist. Es scheint, als sei man hier besonders nahe an den Gestirnen und die Gegend ist wirklich bekannt für ihre geringe Lichtverschmutzung.

Weil bald der 21. Juni war und ich gelesen hatte, dass die Bauern in der Steiermark an diesem Tag Mädesüß ins Gebälk ihrer Häuser steckten, um irgendwelche Geister und Dämonen zu vertreiben, und ich dann doch einen Grund hatte, Blumen zu pflücken, der über scheinbar ästhetische Bedürfnisse hinausgeht, watete ich durch Gräser und Brennesseln zu dem nach Mandeln duftendem Mädesüß. Als durch die tiefstehende Sonne selbstleuchtende, cremegelbe Wolken überragten die Doldenblüten die feuchte Wiese, dessen aus der Erde steigender Dunst der Umgebung einen unwirklichen Schleier verlieh.

Als ich wieder auf dem Feldweg war und meine Beine von allen Seiten auf Zecken untersucht hatte, entfernte ich, zumindest grob, die Samen und Kletten, die an meinen Turnschuhen hingen. Mit einem großen Strauß Mädesüß in der Hand setzte ich meinen Spaziergang in entspannten Schritten über den Schotterweg fort. Die Luft war frisch auf meiner Haut und ich versuchte, besonders tief einzuatmen. Es gelang mir allerdings nicht, meine Lunge fühlte sich etwas belegt an.

Schließlich kam ich zu einer Weide mit sechs Hochlandrindern, den teuren, wo ein Kilo Fleisch mehrere hundert Euro kostet. Es waren drei Kälber mit ihren Mutterkühen. Die drei Kälber trotteten fröhlich auf mich zu. Während zwei von ihnen etwa anderthalb bis zwei Meter entfernt von mir stehenblieben, setzte das dritte seinen Gang zögerlich fort. Ich streckte ihm meine Hand durch den Elektrozaun entgegen, an der es erst vorsichtig roch und die es dann begann, ausgiebig abzulecken. Ich setzte mich im Schneidersitz ins Gras und so blieben wir für etwa eine halbe Stunde.

Die Augen des Kalbs waren während dieser Liebkosung weit aufgerissen und von dichten Wimpern umrankt, sie schielten auf meine Hand. Das Fell hatte eine helle rotbraune Tönung. Die Zunge war sehr rauh. Um uns herum summten Insekten, flogen die Pollen wie Schneeflocken. In der Ferne hörte man die Traktoren, die kurz vor dem Sonnenuntergang die Düngung ausbrachten.

Ein paar Abende später kam ich wieder zu der Weide, ich wollte meinen neuen Freund besuchen. Als ich meinen Blick über die Weide gleiten ließ, entdeckte ich jedoch nur die zwei anderen Kälber. Sie standen im hinteren Bereich der Wiese im Schatten eines umgefallen Baumes, aus dem frische grüne Blätter noch eingelagerte Kräfte zehrten. Auch die drei Mutterkühe waren da, sie grasten zuerst etwas abseits und blickten dann vorwurfsvoll zu mir auf.

Auch einige Zeit später, wenn ich zufällig an der Weide vorbeikam, sah ich das rotbraune Kalb nicht mehr. Ich fühlte mich verantwortlich für eine Tragödie. Zuerst dachte ich, ich hätte das Kalb mit an meinen Händen haftenden Rückständen des Mädesüß vergiftet. Ich las von Ackerunkräutern, nahm den Unterschied zwischen Äckern und Weiden nicht wahr, ein Weideunkraut musste deshalb eines sein, weil es für Weidetiere giftig ist.

Schließlich fand ich heraus, durch die gleiche Quelle, die auch von den steirischen Bäuerinnen berichtete, dass Mädesüß dem entgegen jedoch eine traditionelle Heilpflanze ist, früher Lieferant für den Wirkstoff in Aspirin, Salicylsäure, mit schmerzstillenden Eigenschaften, auch für Weidetiere. Ich wähnte mich dann doch in Unschuld. Das junge Kalb hatte vielleicht, wie Füchse oder Hunde, die Tollwut bekommen, schließlich war es ungewöhnlich zutraulich gewesen, Tiere mit Tollwut verloren ihre Zurückhaltung gegenüber den Menschen.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich D. das erste Mal von dieser Geschichte erzählte. Wir sind spazieren gegangen und zufällig an einer Kuhweide mit fleckigen basic-Kühen vorbeigekommen. Die Kühe waren alle zutraulich und fraßen büschelweise Gras aus unseren Händen. Ihre Blicke erschienen mir viel weniger intelligent als die der Hochlandkühe. Sie gehörten dem selben Bauern, er hatte sein Angebotsspektrum vergrößern wollen.

An diesem Tag dachte ich, dass der Wert der Hochlandkühe paradoxerweise darin bestand, dass sie weniger gezüchtet wurden und dass weniger menschliches Tun für ihr Dasein verantwortlich gewesen ist. Sie haben viele hunderte Jahre unter gleichförmigeren Bedingungen gelebt. Vielleicht war ihr Immunsystem außerhalb dieser Umgebung weniger gefestigt. Auf meiner Hand könnten alle möglichen Keime und Bakterien gewesen sein.

Bild mit freundlicher Genehmigung von J Verhaegen