In einem Fragebogen wurde beschrieben Hildesheimer Studenten ihren Gegner/ihre Gegnerin: Wie würdest du das Gegenteil deiner politischen Einstellung beschreiben? Beschreibe deinen Gegner/deine Gegnerin! Welche Kleidung würde er/sie tragen? Was würde er/sie frühstücken? Welchen Beruf würde er/sie ausüben? Wie würde er/sie zur Arbeit fahren?Welche Musik würde er/sie hören? Was hat er/sie studiert? Wie würde er/sie den Samstagabend verbringen? Was ist seine/ihre Lieblingsfarbe? Nene bis zu drei Eigenschaften deines Gegners/deiner Gegnerin! Wenn du noch etwas über ihn/sie sagen willst…
Aus den Antworten ist eine Figur entstanden. Aus den Antworten sind auch die Ereignisse eines Tages im Leben dieser Figur entstanden. Um das ganze Spektrum an unterschiedlichen Vorstellungen wiederzugeben, ist jede einzige Antwort im Text vorhanden. Alle Beiträge wurden so wortgetreu wie möglich benutzt, außer bei den Antworten auf die erste Frage. Die Antworten wurden in diesem Fall ins Gegenteil umgekehrt, häufig mit der Hilfe einer Online Antonyme-Suchmaschine.
Die Personen und die Handlungen sind mehr oder weniger frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheitn oder lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Helene Fischers Stimme füllt das Schlafzimmer aus. Ich schlaf alleine ein, wach alleine auf und dazwischen träume ich von dir – tagein, tagaus der gleiche Tagesablauf. Ich frag mich, ob du überhaupt existierst. Seine/ihre Hand sucht das Handy auf der Kommode, die Finger berühren die Plastikhülle, er/sie schaut auf den Display mit halboffenen Augen und tippt auf das Snooze-Icon. Er/sie dreht sich auf den Bauch, die Hand, die das Handy noch hält, unter dem Kopfkissen. Die Augenlider gehen vollständig auf. Fünf Minuten. Der Himmel leuchtet weiß hinter den dünnen Vorhängen, Winterhimmel, Freitagshimmel, verschlafene Gedanken über das, was er/sie heute tun muss. Er/sie muss heute nicht besonders viel tun. Nach dieser Feststellung ersetzt der Refrain von Helene Fischers Lied jeden weiteren Gedanken für die nächsten vier Minuten, bis der Wecker wieder klingelt und derselbe Refrain das Schlafzimmer wieder ausfüllt. Wie in ’ner Achterbahn.
Normalerweise wacht er/sie auf mit dem Geschmack eines Wunsches im Mund auf. Die Lust nach einem ungewöhnlichen Frühstück, Hunger nach Fleischwurst, Blutwurst, Schinkenwurst, Hackbällchen mit Kartoffelsalat, Schlangenmilch oder Katzenbabys oder kleinen Kindern. An diesem Freitagmorgen ist ihm/ihr nach rohen Eiern. Er/Sie betrachtet aufmerksam diesen Wunsch während des Aufstehens und Anziehens des Morgenmantels. Bis er/sie in der Küche ist, ist der Wunsch verschwunden. Vor dem offenen Kühlschrank materialisieren sich die unendlichen Möglichkeiten der ersten Mahlzeit des Tages.
Die Entscheidung fällt ihm/ihr schwer. Er/sie macht den Wasserkocher an, überlegt kurz, dann gibt er/sie noch ein wenig Wasser dazu. Kaffee und Früchtetee. Ungewöhnlich genug, um die restlichen seltsamen Wünsche zu zähmen. Vom Entschluss befriedigt, schüttet er/sie Birchermüsli und Cornflakes in einer Schüssel und gießt diese voll mit Milch. Kuh-Milch. Er/sie kocht sich ein Ei und wundert sich, dass eine Tüte mit frischen Brötchen, Pumpernickel, Schwarzes Brot und Zimtschnecken auf dem Küchentisch liegt. Er/sie nimmt ein Brötchen und belegt es süß. Er/sie denkt darüber nach, welche Zutaten nach der Lebensmittelpyramide das Frühstück haben sollte, um ihm/ihr ein maximal langes Leben zu gewähren. Dann zündet er/sie sich eine Zigarette an. Würde man eher sparen oder mehr ausgeben, wenn man Koks frühstücken würde? Oder Geldscheine. Oder Menschen. Davon gibt es ja schließlich schon genug. Seine/ihre Überlegungen, welche Herkunft das geschmacksintensivste Menschenfleisch wohl haben mag, werden von einem Blick auf die Uhr unterbrochen. Er/sie drückt die Zigarette aus, trinkt einen letzten Schluck Kaffee, spült den bitteren Geschmack mit dem Früchtetee herunter und geht ins Bad.
Die Versuchung ist stark, die Wohnung mit Jogginghosen und Umhang zu verlassen. Oder mit gar keinen Klamotten. Im Schrank hängt die Wehrmachtsuniform neben der Burschenschaftuniform ganz hinten, er/sie überlegt, dann zieht er/sie doch eine Hose und einen Pullover an. Der Pullover mag er/sie gern, Second-Hand, ironisch gemeint. Sein/ihr Blick streift die Markenklamotten „Mainstream“, das pinke Kostüm von Chanel mit Katzen, die XS Urban Outfitters-Kleidung, die ihm/ihr nicht mehr passt. Der Blick wandert weiter in Richtung Caprihosen. Wie viele Tage fehlen zum Sommer? Er/sie zieht sich wieder aus, kratzt sich am Kopf, liebäugelt mit den Hemden und Blusen und Stoffhosen, seufzt, entscheidet sich am Ende doch, einen Anzug zu tragen. Nun grau oder schwarz? Oder schwarzgrau? Der Hipster-Anzug von H&M ist eher für den Abend geeignet, beschließt er/sie. Erst ist ein ganzer Arbeitstag zu bewältigen. Er/sie zieht seinen/ihren schwarzen Anzug an. Mit grauer Krawatte. Ein guter Kompromiss. Er/sie legt wert darauf, sich aufmerksam und korrekt anzuziehen.
Spießig, könnte man sagen. Deswegen ist die Schuhauswahl alles andere als unkompliziert. Könnte alles sein.
Klischee-Springerstiefel passen nicht zum Anzug, weiße Sneakers schon eher, die braunen, spitzen Lackschuhe sind schön, aber jeder weiß, dass schwarz und braun nicht zusammengehen. Für die Ital-Schuhe aus Seide ist auch nicht die Jahreszeit. Wie viele Tage fehlen zum Sommer? Neben dem Schuhregal liegt eine weiße Tüte mit unbekanntem Inhalt, darauf die Inschrift: Das gleiche wie ich. Zu früh, um sich damit zu beschäftigen. Er/sie zieht nichtssagende, schwarze Schuhe an, schaut aus dem Fenster. Die Sonne scheint. Es ist wahrscheinlich nicht kalt genug für den Schafspelz.
Wenn das Wetter gut ist, könnte man sich doch umziehen und in voller Radmontur mit dem ultraleichten Rennrad zur Arbeit fahren, es ist schließlich Freitag, denkt er/sie, während er/sie die Treppen zur Garage hinabsteigt. Es ist schließlich Freitag. Man könnte auch gar nicht zur Arbeit fahren. Drachen können fliegen. Sie brauchen aber wohl nicht zur Arbeit zu fahren. Man sollte fliegen können. Oder eine SLS-Rakete zur Verfügung haben. Welches Transportmittel wäre Zwecks Sparsamkeit und wenn möglich Profitsteigerung besser? Rad, wahrscheinlich. Segway? Taxi ist auszuschließen. Einkaufswagen vielleicht. Wie soll man zur Arbeit fahren? Könnte alles sein. Vielleicht mit der Bahn. Und einem Energy-Drink. Eine Stimme in seinem/ihren Kopf souffliert: Wie ich. Er/sie bricht die Assoziationskette der Gedanken ab, die ist ohnehin an allzu seltsame Orte gelangt. Er/sie öffnet die Tür zur Garage. Die Autos von seinen/ihren Eltern sind auch hier abgestellt, der Porsche von Mami neben der Limousine mit Begleitschutz. Er/sie winkt zum Fahrer, überlegend, ob er/sie sich zur Arbeit fahren lassen soll. Man könnte damit die Entscheidung ausweichen, ob Porsche oder Opel, VW oder Fiat. Er/sie setzt sich doch ins Auto von Mama. Schöne Erinnerungen. Ja, ok, ich fahre auch Auto. Er/sie startet den Motor.
Auf dem Beifahrersitz sind noch seine/ihre alte CDs. Katy Perry. Um 2010 war sie ganz angenehm, was danach kam hat er/sie nicht mehr wirklich verstanden. Schöne Brüste, denkt er/sie. Heavy Metal-Platten, deutsche und norwegische. Vielleicht ist es ein bisschen zu früh dafür. Die ersten Alben der Böhsen Onkelz. Während das automatisierte Tor sich öffnet, versucht er/sie sich daran zu erinnern, wer auf die Idee gekommen sein mag, diese Platten ihm/ihr zu schenken. Die ganze Debatte, ob die rechtsradikal seien oder nicht, hat er/sie nicht wirklich verfolgt. Er/sie mochte einfach nur die Musik, aber erst nach ihrer Punk-Phase. Das Tor ist jetzt offen, er/sie kramt aber weiter zwischen den CDs. Die obligatorische Kopie von Back in Black, Pop der Zweitausender, Volksmusik, Rechtsrock. Viele Jugendsünden. Elektro mit Gesang, klassische Lieder mit Kinderchören aus irgendeinem Grund, deutscher Hip Hop. Eine Flut aus Ohrwürmern. Ansage Nr.1 von Aggro Berlin, sieben Lieder, siebentausendmal gehört. Mehrere Techno-Sammlungen. Er/sie erinnert sich an die Sommerabende, das schlechte Bier, die Felder vor der Stadt, die improvisierten Partys und die Abwesenheit von jeglichem Kater am nächsten Morgen. Drei letzte CDs liegen ein wenig versteckt, alle sind mit einer durchsichtigen Hülle versehen, aus der Zeit, in der man Musik schon herunterladen konnte, aber über keinen iPod oder Smartphone verfügte. Er/sie liest den mit einem blauen Marker geschriebenen Titel auf der erste CD: Nur das Gebrüll und Geschrei und das Weinen deiner Opfer. Bestimmt wieder ein albernes Geburtstagsgeschenk. Auf der zweiten CD steht nur: Die gleiche wie ich. Die dritte CD ist noch rätselhafter: Könnte alles sein. Vielleicht Wagner. Er/sie fährt weiter und macht das Radio an. Radio Klassik. Mit den Fingern trommelt er/sie auf dem Lenker im Takt mit Beethovens Für Elise. Dann wechselt er/sie den Sender. Charts, Top Ten. Wieder Helene Fischer. Gefühle außer Plan.
Der Arbeitsweg geht am Universitätsgebäude vorbei. Die Erinnerungen aus der Studentenzeit häufen sich, nehmen Platz neben ihm/ihr, neben den CDs der Jugendzeit. Nach dem Abitur hatte er/sie für eine kurze Zeit Politikwissenschaften studiert, er/sie dachte sich, könnte alles sein, vielleicht Politik. Was er/sie zu studieren hatte schien unwichtig.
Er/sie brach das Studium ab, schrieb sich für Theologie ein. Theologie ist ein guter Alibi-Studiengang, auf jeden Fall besser als Das-Gleiche-wie-ich. In der Zeit täuschte er/sie krampfhaft vor, studiert zu haben. Die Unsicherheit der Zwanzigjährigen. Die VWL hat bei mir studiert, sagte er/sie. Er/sie fing Jura an, fiel aber zweimal durch das Staatsexamen, wechselte zum Lehramt, dann endlich BWL. Die Ausbildung zum/zur Kaufmann/-frau. Schöne Zeiten. Dann kamen die Weiterbildungen in Sozialwissenschaften, Mathematik und Journalistik. Er/sie hätte weiterstudiert auf Ewig, wenn es nur möglich gewesen wäre. Und dazwischen hätte er/sie überall gearbeitet. So wie einst Lili Marleen.
Erster Job war Kassierer/in im Supermarkt. Öde, aber ganz gut neben dem Studium. In der Jura-Phase machte er/sie unterschiedliche Praktika als Steuerfachgehilfe/in, bei Anwälten und sogar bei einer Richterin für einen Monat. Als die juristische Karriere scheiterte, wurde er/sie erst Fahrkartenkontrolleur/in, dann Polizist/in. Das dauerte aber auch nicht lange. Die Quarter-Life-Krise kam, er/sie schmiss alles hin. Eine kurze Zeit war er/sie Bauer/Bäuerin, so wie ich, dann Fachbearbeiter/in, Verwaltungsfachangestellte/r, Betriebswirt/in, Sachbearbeiter/in, bis er/sie fühlte, die Zeit war gekommen, ein Start-Up zu gründen. Irgendwas mit Medien. Nach wenigen Monaten ging es pleite. Die Zeit war vielleicht doch nicht gekommen. Er/sie versuchte, eine Karriere bei der Bank anzufangen. Erst Broker/in, nach der Ausbildung stieg er/sie als Bankkaufmann/-frau ein. Er/sie weiß bis jetzt noch nicht, wie es dazu kam, vielleicht aus rein finanziellen Gründen, vielleicht aber aus einem ehrlichen Drang, die Welt zu verbessern oder zumindest zu prägen: Er/sie ging in die Politik. Und schaffte es auch ganz hoch. Nach komplizierten Machtspielen wurde er/sie Angestellte/r eines Ministeriums und zeitweise Schuldirektor/in. Er/sie hatte eine ganz eigene Vorstellung von politischer Karriere. Nachdem er/sie sich vor laufenden Kameras als Bösewicht bezeichnet hatte, kam für ihn/sie eine schwierige Zeit, wo keiner ihn/sie anstellen wollte, weil sich alle so schrecklich vor ihm/ihr fürchteten. Dann bekam er/sie überraschenderweise ein Angebot von Daimler, einen Posten in der mittlere Führungsebene zu übernehmen. Wahrscheinlich hatten die vor Bösewichten keine Angst. Jetzt kann er/sie für sich arbeiten lassen, hat einen sicheren Bürojob, dessen Aufgaben zwischen dem Anwalts-, Journalismus-, Mathematik- und Logistikbereich liegen, ist in der Politik wieder aktiv geworden bei der AFD, denn es könnte alles sein, denkt er/sie sich. Alles scheint gut zu gehen. Aber keiner kann sich vorstellen, was der unerreichbare Traumjob für ihn/sie ist. Teilweise hat er/sie auch Schwierigkeiten, es sich selbst einzugestehen. Aber der Traum ist hartnäckig und lässt nicht los. Was er/sie wirklich gerne wäre, ist Homöopath/in.