Siebeneinhalb Stunden würde die Aufführung von Tschechows Drama „Platonow“ in seiner ursprünglichen Form dauern. Regisseur Stephan Kimmig, der mehrfach mit dem deutschen Theaterpreis FAUST ausgezeichnet wurde, bringt mit „Platonowa“ eine raffiniert moderne Version des Dramas an das Schauspiel Hannover .
Der (andere) Text
Bei Kimmig werden sieben Stunden zu knapp drei, aus dem zynischen Lehrer Platonow wird Platonowa und auch die Geschlechter diverser Nebencharaktere werden vertauscht. Auf den ersten Blick ändert dies wenig an der Handlung des Dramas. Der hochverschuldete Unternehmer Anton Woinitzew gibt ein Fest zur Hochzeit seines Sohnes. Unter den Gästen befindet sich die Lehrerin Platonowa, in die gleich vier der versammelten Gäste verliebt sind. Unter anderem Sofia, die frische Braut des Unternehmer Sohnes Georg, die früher mit Platonowa zusammen war. Platonowa sieht weder in der Gesellschaft, der Liebe oder ihrem Leben Perspektiven. Im Laufe des Abends entsteht eine immer stärkere Spannung zwischen den Gästen. Liebeserklärung werden ausgesprochen und nicht erwidert. Am Ende fällt ein Schuss.
Der tiefgreifende Effekt Kimmigs Überschreibung ist nicht nur die Modernisierung des Dramas. Vielmehr wird der Fokus vom Menschenhass eines depressiven Mannes auf die Perspektivlosigkeit der Individuen in den Strukturen des heutigen Gesellschaftssystems gelenkt. Durch das Aufheben von Geschlechterrollen, werden die Figuren zu Menschen. Geschlecht, Alter und Herkunft spielen keine Rolle mehr. Stellvertretend für den modernen Menschen wird Platonowa mit der Forderung nach Leistung, dem Zwang nach Effektivität und dem Umgang mit starken Gefühlen konfrontiert.
DIE KÖRPER
Ein nackter Arm im Nebeldampf
Durch den dynamischen und abwechslungsreichen Einsatz von körperlicher Bewegung, gelingt dem Ensemble des Schauspiel Hannovers ein überzeugender Ausgleich in der textlastigen Inszenierung. Sei es, wenn Anja Herden als betrunkene Ärztin über die schwelle der weißen Veranderbühne stolpert, wenn Nils Rovira-Munoz mit rot geschminkten Lippen grazil im Nebel des hinteren Bühnenraumes tanzt oder wenn Lukas Holzhausen und Amelle Schwerk in einem wilden Ringkampf auf dem Boden intim werden. Die Bewegung der Körper machen Tschechows Figuren lebendig. Hier wird das Stück glaubhaft und Teil der Gegenwart, wir das hier und jetzt sichtbar. Es entsteht eine interessantes Gegenspiel zur monotonen Bühnenästhetik. Ein aufblitzen von Realität in einem klinisch, künstlichem Setting.
DIE STIMMEN
Geschriene, gesungene und fremde Worte füllen den Saal des Schauspiel Hannovers
Anja Herdens sanfte, heißere Stimme wirkt angenehm beruhigend im ersten Teil von „Platonowa“. Es wird unglaublich viel herumgeschrieen – ohne sichtbaren Zusammenhang zu den Figurencharakteristika. Die Zuschauer*innen müssen sich zu beginn der Aufführung im Durcheinander von 13 Figuren zurechtfinden, die eine lauter und hektischer als die andere. Zum Glück ebbt das hysterische Gekreische im zweiten Teil der Aufführung ab und macht Platz für akustische Vielfalt. Durch den sanften und beeindruckenden Gesang von Katherina Sattler, gewinnt die Aufführung an akustischer Dynamik. Auch der Klang der russischen Sprache, der leider erst ganz am Ende der Aufführung seinen Weg in die Inszenierung findet, bereichert die auditive Atmosphäre von „Platonowa“.
DIE PAUSE
„Und was denken Sie?“
Der Saal des Schauspielhauses Hannover ist an diesem Abend nur halb gefüllt. Die Schlange an der Theaterbar trotzdem lang. Bei einer Brezel und einem Glas Wein (Zusammen 10 Euro) hat der/die Zuschauer*in Zeit das gelb-weiße Foyer zu betrachten. Die Pause bietet außerdem Möglichkeit zum Austausch über die Inszenierung.
„Und wie gefällt es dir Schatz?“, fragt ein älterer Mann seine Frau und reicht ihr ein Glas Rotwein, dass er gerade an der Theaterbar gekauft hat. „Toll, so viel Energie.“, antwortet Sie und nippt an ihrem Wein. An einem Stehtisch am anderen Ende des Saales stehen zwei Frauen – vermutlich Mutter und Tochter. „Also diese Seyneb Saleh spielt gar nicht überzeugend.“, sagt die junge Frau im schwarzen Abendkleid und beißt genussvoll in ihre Brezel.
„Och, mir gefällt die ganz gut. Besonders…“ – der Rest ihrer Antwort wird vom Geräusch der Theater-Klingel übertönt.
DIE VERZWEIFLUNG
„Ich bin 27 Jahre und ich lebe noch. Weißt du eigentlich, was das für eine Leistung
ist?“
Der Satz fällt kurz vor der Pause. Dem/der Zuschauer*in wird nach und nach klar, dass Platonowa nicht die einzige verzweifelte Figur in Tschechows Drama ist. Alle 13 Figuren sind krampfhaft auf der Suche nach einem besseren Leben. Gemeinsamer Ansatz ist, dass sich dafür zuerst die Mitmenschen verändern müssen, bevor man an sich selbst arbeitet. In ihrer Verzweiflung lassen sie sich von Gefühlen leiten und suchen Trost in der Liebe und im Alkohol.
Romantische Moment sucht man vergeblich. Krampfhaft klammert sich die kleinkriminelle Nadja an den Gastgeber der Hochzeitsfeier, Anton Petrow. In fast schon lächerlichen Maß himmelt sie ihn an und schwört, sie würde alles für ihn tun. Anton will nichts davon wissen und interessiert sich nur für Platonowa. So wie alle andern. Leider verliert die Inszenierung durch die Überspitzung des Krankhaften der Charakteren, stellenweise das Potenzial eine Verbindung zur Gegenwart zu zeichnen. Die hysterische Spielweise des Ensembles scheint aufgesetzt. Soll dadurch die fatale Auswirkungen des gesellschaftlichen Systems auf die Psyche der Menschen transparent gemacht werden?
DAS GELB
Ein weißer Anzug, ein gelbes Kleid, melancholische Eintönigkeit.
In der visuelle Ästhetik von Kimmigs „Platonowa“ nehmen die Farben gelb und weiß eine dominante Rolle ein. Ob die Farbauswahl der weiß-gelben Ästhetik des Schauspielhauses Hannovers folgt, bleibt unklar. In jedem Fall scheint die Beschränkung auf überwiegend blasse Farben gezielt gewählt. Das Bühnenbild, geprägt durch eine weiße Veranda-Bühne im vorderen und einem dunklen, tiefen Bühnenraum im hinteren Teil, erlebt wenig Veränderung. Auch das Licht bleibt monoton grell und beleuchtet den vorderen Teil des Zuschauerraumes.
Die eintönige Ästhetik untermalt die trostlose Atmosphäre der Komödie. Indem Kimming seine 13 Schauspieler*innen nicht nur als Figuren, sondern auch als bewegbare Kulisse einsetzt erlebt der Bühnenraum dennoch Veränderung. Auf
raffinierte Weiße wird der pastellgelbe Pulli des Gutsbesitzers und das knallgelbe Kleid, der Landärztin in ein ästhetisches Zusammenspiel mit der weißen Verandabühne gebracht. Die präzise Positionierung von Schauspieler*innen im vernebelten Bühnenraum bringt Dynamik in eine ansonsten trostlose Kulisse.
Fotos: Staatstheater Hannover, © Katrin Ribbe