Also hat uns der Virus jetzt aufs Glatteis geführt. Die, die einbrechen, kommen in unserer Berichterstattung kaum vor. Master of ceremony: Wir feiern Vorhersagen, Statistiken, Absicherungen, Programme und Diagnosen. Wir versichern uns gegenseitig, dass wir noch Boden unter den Füßen haben, indem wir uns in unseren Rudeln spazieren führen. Überall werden Konstruktionen errichtet, die uns mit viel Geld in der Reibungslosigkeit halten wollen. Damit wieder alles wird wie vorher.
Zugleich raunen wir es uns zu: Nichts wird sein wie zuvor. Als ob wir eine abgründige Sehnsucht nach dem Ende des Großen Schleifens hätten. Aber wie war es denn zuvor? Wie war es für wen und wann? Wer will das überhaupt wissen? Hat es schon mal jemand gewusst? Waren wir wirklich so ungestört? Und welches wir meinen wir mit wir?
Es geht beim Schleifen nicht nur um das, was produziert wird. Wir sind nicht Objekt oder Vollendung der Produktion, sondern die Produktion selbst. Was da geglättet wird, ist dann unser Glanz. Wir sind markiert, wir verhalten uns so, abgerieben und gelagert. Körper werden aus ihrer Umgebung geschnitten und gerissen, was dabei abfällt, lagert sich als neue Oberfläche ab. Eine Zerstörungslinie wird gezogen, aber auch eine ebene Ebene. Eine feine Politur unserer Unvollkommenheit, mit glatten Markierungen, vervielfachte Schnitten. Rasiert, geschnitten, geglättet, gereinigt. Wie viele Tote braucht es, um uns glatte Subjekte zu dekontaminieren, zu normalisieren? Die glatte, die reibungslose Gesellschaft hat raue Stellen, viele Engpässe.
Die Rauheit ist nur ein Teil der Glättung, sowohl ihres Zustands als auch ihrer Wirkung. Jeder Glanz, jede Reflexion markiert eine kleine Katastrophe. Wir legen unsere Menschlichkeit ab. Aus dem, was wir jetzt sehen, gibt es kein Entkommen. Was wir sehen, die Toten, die zwischen den Lebenden liegen, verformt uns. Was wir sehen, ist ein Brocken, ein Klotz, ein Spat, der mitten in uns ist und bleibt, der laugt und saugt, aus. Wir hören nicht auf zu sterben und schreiben. Und laufen davon. Und lutschen Steine, glatt und ziellos. Vergessen ihre Namen, die Hälfte aller Worte. Wir gießen uns um. Die “träge, blasse und eintönige Flüssigkeit der Zukunft” (Beckett) wird zur vielfarbigen Flüssigkeit der Vergangenheit.
Zwischen den Jahren die Rauhnächte: Zeit ohne Form, Tage, die aus dem Kalender gefallen sind, struppige Stunden. Nächte, in denen wir wildern.
Die Toten sehen wir nicht. Wir sehen sie nie. Wir vergessen sie, auch wenn wir so tun, als könnten wir uns erinnern. Sie liegen auf dem Bauch. Wir sitzen neben ihnen, berühren ihre Hände, legen ihnen eine Hand zwischen die Schulterblätter, suchen nach dem, was wir kannten. Dann laufen wir davon. Im Schreiben holen wir sie nicht zurück, im Erinnern erinnern wir sie nicht. Der Hochglanz des Früher schützt uns vor unseren Verlusten. Nichts wird sein wie ein Früher, das es nie gab.
Das Kind muss, weil es undeutlich spricht, täglich einen Kieselstein im Mundraum bewegen. Der Stein liegt neben dem Teller, damit es nach jeder Mahlzeit seine Übungen absolviert. Er ist oval, grau gemasert und sehr glatt, damit sich das Kind nicht die Zunge verletzt. Als das Kind zum ersten Mal die Lippen um den Stein schloss, fing es an zu würgen, aber die Mutter verschloss seinen Mund mit ihrer warmen Hand. Die Spucke sammelte sich unter dem Stein, und das Kind schluckte heftig, voller Angst, der Stein könne ihm in die Kehle geraten.
Aber er war mit Bedacht gewählt und zu groß zum Verschlucken. Laut sprechen, sagte die Mutter, zähl bis zehn, das machen wir jetzt jeden Tag. Dann nuschelst du bald nicht mehr. Inzwischen weiß das Kind sich zu helfen, rasch zählt es bis zehn, die Lippen wölben sich um den Stein, die Zunge hält still. Die Mutter ist zufrieden und hält die Hand hin, damit das Kind ihr den Stein hineinspuckt. Ab und zu kommt er in die Spülmaschine.
Der Zungenstein belegt die Stimme. Den Schrieb, den Abrieb. Geredet oder geschrieben bleibt das ein Blick in den Spiegel. “graphitgeriesel” bei Kling auf dem Papier. Das stürzt auf das Papier, schwer wie Blei und verheert den weißen Spiegel, die “geredete rede”, weil die Stimme keinen Stand hat, nur stürzen kann. Das Spiegelgesicht, aus dem die Redestimme kommt, hat kaum Konturen. Beim Versuch, den lauten, stummen Spiegel anzupeilen, zwanghaft, beginnt die Stimme zu knirschen und zu scheppern.
Das ist die Stimme, die taumelt, das sind die Linien im Gesicht, die Wolken an der Decke, Wörter ohne Stabilität und mit langen, glatten, schwarzen Haaren, ein offenes Netz, das wir versuchen loszulassen, um anzufangen, ein Schimmern im Tau, die Illusion und ein Riss, ein verwirrtes Atmen an rauer Schieferkante in diesem Raum. Brich das Knirschn, extrahier die Vokale bis auf das lange i, brich die Zeile bis das rschn bleibt. Heraus rieselt, was nur die Stimme machen kann.
Es rieselt ins Ohr, aus der Kehle raus, abgesprungen von der Zunge zeugt es von einem Ohrenraub, immer leicht geglitcht diese Stimmspäne, die das Sprachbild zerpixeln. Die Rede abgerieben, geschliffen mit der Sehnsucht nach Sagezäpfchen, die leicht einen Deut machen und einschlüpfen, ganz ohne ung oder Be. Zeig, sagt es. Zeig und es schreibt aus irgendeiner Kindheit her, die Lippen zerkaut bis sie krustig sind.
Halt die Außensprache kalt, innen sei Insektendunst, mach es mir mach mich gesund, Wespe, komm in einen Mund. Marcel Beyer, Wespe, komm, in: Graphit