„Können wir verstecken spielen?“, quengelte Theo jetzt schon zum zweiten Mal. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört und blätterte eine Seite in meinem Buch um. Es war ein ruhiger Nachmittag. Die Junisonne schien warm durch das Blätterdach der großen Linde, auf deren Ästen ich es mir bequem gemacht hatte. Mum und Dad waren noch in der Kanzlei, deshalb war ich allein mit meinem kleinen Bruder daheim. Meine Großeltern wohnten zwar im unteren Stockwerk unseres Hauses, doch ich hatte Oma vorhin sagen hören, dass sie noch einkaufen wollte.

„Bitte!“, nörgelte Theo erneut. „Ich möchte lieber lesen“, seufzte ich genervt. „Kannst du nicht mit deinen Freunden spielen?“ „Das geht nicht“, sagte Theo und ließ den Kopf hängen. „Warum denn nicht? Habt ihr euch gestritten?“, fragte ich milde interessiert. Theo schwieg. Er blickte zu Boden und sah dabei so unglücklich aus, dass er mir fast  schon wieder Leid tat. Außerdem wirkte er blass, ein wenig müde vielleicht. „Na schön. Aber du suchst zuerst!“ Ich sprang von meinem Ast herunter und legte das Abenteuerbuch beiseite. Mein Bruder strahlte mich an, bevor er sich die Augen zuhielt und anfing zu zählen. „1, 2, 3, 4…“ „Nicht schummeln!“, rief ich. Leise lief ich los und hielt dabei nach einem geeigneten Versteck Ausschau. Unser Garten war groß, aber gepflegt. Die Gärtnerei, die meine Eltern  beauftragt hatten, hielt die Beete frei von Unkraut und den Rasen ordentlich gemäht. Es gab genügend Möglichkeiten, sich hier zu verstecken. Einzig die Hecke aus Buchen, die im Laufe der Jahre immer mehr verwachsen waren, war für uns tabu. Sie war um die zwei Meter hoch und stellte die Grenze zum Grundstück unserer Nachbarn dar.

Ich beschloss, unter der kleinen Weide in Deckung zu gehen, deren Zweige fast bis zum Boden reichten. Dort kauerte ich mich zusammen und wartete. Theo war früher nie besonders gut darin gewesen, mich aufzuspüren, doch in letzter Zeit hatte er sich deutlich verbessert. Vermutlich kannte er mittlerweile alle meine beliebten Verstecke. In kürzester Zeit hatte er wie ein Suchhund meine Spur aufgenommen und mich gefunden. Ich musste nicht mal einen Piep von mir geben. So auch heute. „Hab dich!“, tönte es da auch schon fröhlich. Es hatte vielleicht eine Minute gedauert. Theo schob die Zweige vor meiner Nase auseinander und grinste mich an. „Du bist dran. Aber zähl nicht so schnell!“ Ich hörte seine federleichten, schnellen Schritte auf dem Rasen gar nicht. Anscheinend hatte er schon ein kluges Versteck in Aussicht. Ich ließ ihm trotzdem Zeit und zählte sehr langsam bis zwanzig. Dann kroch ich unter der Weide hervor, um mit der Suche zu beginnen.

Zuerst sah ich im Kräuterbeet nach, in dem Theo sich gerne versteckt hatte, als er noch kleiner war. Dabei hatte er oft genug die Petersilie zertrampelt, weshalb unsere Eltern ihm irgendwann verboten hatten, auch nur in die Nähe des Beetes zu kommen. Doch ich kannte meinen Bruder und wusste, dass er nicht viel auf Regeln gab. Das Einzige, was ich im Beet finden konnte, waren jedoch fein säuberlich gesetzte Pflanzen. Ich strich kurz über den duftenden Rosmarin, ehe ich meine Suche fortsetzte. Als Nächstes schaute ich ins Gewächshaus. Auch hier keine Spur von Theo. „Mäuschen, mach mal Piep!“ Ich lauschte angestrengt, konnte aber nur das Rauschen der Bäume hören. Ein Wind hatte sich aufgetan und fuhr sachte übers Gras. Ich suchte in unserem Baumhaus, das wir gemeinsam gebaut hatten, sogar in der leeren Garage und rief wieder und wieder seinen Namen, doch ich hatte kein Glück. Nachdem ich den ganzen Garten abgesucht hatte, blieb ich ratlos stehen. So langsam hatte ich keine Lust mehr auf seine Spiele. „Theo!“, rief ich wieder. „Ich gebe auf, du hast gewonnen.“ Fast erwartete ich, ihn aus einer verborgenen Ecke auf mich zu rennen zu sehen, glücklich über seinen Sieg. Doch es tat sich nichts.

Unsicher sah ich hinüber zu der hohen Hecke. Eigentlich durften wir dort ja nicht spielen. Aber es sah Theo mal wieder ähnlich, etwas Verbotenes zu machen, wenn unsere Eltern nicht da waren. Am liebsten wäre ich umgekehrt, um weiterzulesen, so lange, bis es Theo zu langweilig geworden wäre und er freiwillig sein Versteck verlassen hätte. Doch weil ich mich verantwortlich für ihn fühlte, durfte ich jetzt nicht nachgeben. „Theo! Wo bist du denn? Komm raus, es ist nicht mehr lustig!“ Ich spähte zwischen die Blätter der Hecke. Schritt für Schritt ging ich an ihr entlang, um ja nichts zu übersehen, aber es war zu dunkel darin, um etwas erkennen zu können. Wenn ich Theo finden wollte, musste ich mich wohl oder übel durch das Geäst kämpfen. Ich sah noch einmal prüfend in den Garten zurück. Nicht, dass er nun doch dort war und vor Lachen im Gras herumkugelte. Die Rasenfläche war leer.

Mit klopfendem Herzen trat ich in die Hecke hinein. Es roch nach Laub und Holz. Sofort merkte ich, wie sich kleine Äste an meiner Hose verhakten und meine nackten Arme zerkratzten. Bei jedem Schritt knackte es unter meinen Füßen. Immerhin hatten sich meine Augen schnell an das schummrige Licht gewöhnt. Mühsam bahnte ich mir einen Weg durch die dichten Blätter, die mich im Gesicht kitzelten und piksten wie kleine Nadelstiche. Ein paar Meter neben mir ertönte plötzlich ein leises Rascheln. Ich blieb stehen. Der Wind war stärker geworden und fegte kalt durch die Büsche. Ich fröstelte. „Theo?“, wollte ich fragen, doch es kam nur ein Krächzen heraus. Schon spürte ich, wie etwas auf mich zu kam und die Äste in Bewegung versetzte. Panisch legte ich den Rückwärtsgang ein, blieb dabei allerdings mit meinem Schnürsenkel hängen. Das Rascheln wurde lauter. Wie aus dem Nichts kam ein Schatten direkt auf mich zugeflogen. Ich schrie auf und hielt mir schützend die Arme vors Gesicht. Blindlings stolperte ich zurück, bis die Hecke schließlich nachgab und ich ins weiche Gras plumpste. Vorsichtig blinzelte ich zwischen meinen Händen hindurch zu meinem Angreifer.

Ich wusste selbst nicht ganz, was ich erwartet hatte. Aber ganz sicher keine verirrte Brieftaube, die sich nun mit hektischem Flügelschlagen wieder in die Luft schwang. Keuchend lachte ich auf, bevor ich mich mit immer noch weichen Knien hochrappelte. Die Erleichterung hielt allerdings nur kurz an und machte einer ungeheuren Wut Platz. Theo und seine blöden Versteckspiele! Hätte er mich doch einfach in Ruhe weiterlesen lassen, dann wäre ich eben nicht in diese schaurige Lage geraten. Das war sicher das letzte Mal, das ich mit ihm gespielt hatte. „Es reicht mir jetzt!“, brüllte ich zornig in Richtung Hecke. „Wo bist du?!“ „Ist alles in Ordnung, mein Schatz?“, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich schaute auf und sah in das Gesicht meiner Oma. Sie wirkte besorgt. „Wo hast du dich denn wieder herumgetrieben?“ Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust.  „Theo ist weg. Ich hab überall gesucht, aber ich kann ihn einfach nicht finden!“ Langsam war mir zum Heulen zumute. Er konnte doch nicht einfach so verschwunden sein! Oma musterte mich schweigend. Dann strich sie mir beruhigend übers Haar und zupfte ein paar Blätter heraus. „Ich weiß, wo dein Bruder ist, Liebes. Opa ist bei ihm.“ Verwirrt sah ich sie an. „Wieso denn jetzt bei Opa? Er wollte doch mit mir spielen.“ So ein Spielverderber! Wenn er das nächste Mal mit seinen Ideen zu mir kam, konnte er sehen, wo er blieb. Oma nahm mich bei der Hand. Auf einmal sah sie sehr müde aus. „Komm, wir gehen zu ihm.“

Gemeinsam überquerten wir die Wiese. Doch anstatt ins Haus zu gehen, schlugen wir einen Bogen darum und gelangten zur Straße. Irgendwie hatte ich geahnt, dass Opa nicht zu Hause war, doch ich konnte mir nicht erklären, warum. Nach wenigen Schritten bogen wir in den Zedernweg ein und liefen diesen schweigend entlang. Warum waren wir hier, warum sollte Theo hier mit Opa herumlaufen? Das ergab keinen Sinn. Schließlich blieben wir vor einem schmiedeeisernen Tor stehen, hinter dem ein großer Park verborgen war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, schon einmal hier gewesen zu sein. Trotzdem kam mir der Ort seltsam bekannt vor.

Oma sah mich an, dann schob sie den Riegel zurück und wir traten hinein. Schmale Schotterwege verliefen über das Gelände und fügten sich wie zu einem Muster zusammen. Mit den kleinen Beeten, die alle eine ähnliche Größe hatten, sah es beinah aus wie ein Labyrinth. Der Park war nahezu leer. Nur vereinzelt sah ich Menschen mit Gießkannen zwischen den kleinen Grünflächen herumlaufen. Wir bogen links auf einen der Pfade ab, dann rechts, dann wieder links. Vor einem hübsch angelegten Beet, das mit Buchsbaum umrahmt war, blieben wir wieder stehen. „Und wo ist jetzt Theo?“ Verwirrt sah ich mich um, konnte aber weder ihn, noch Opa irgendwo entdecken.

„Es tut mir so leid, Kleines“, sagte Oma und wischte sich über die Augen. Ihre Stimme zitterte, genau wie ihre Hand, mit der sie nun auf einen grauen Marmorstein zeigte, der sich in der Mitte des Beetes befand. Ich runzelte die Stirn und las die kurze Schrift darauf – und stockte. In der ersten Zeile war der Name meines Opas zu lesen und darunter, es war nicht zu glauben, auch Theos. Ich lachte kurz auf. Das konnte ja gar nicht sein. Doch als ich das Datum las, lief es mir plötzlich kalt den Rücken hinunter. „Was…?“ Ohne zu wissen, was geschah, tauchten Bilder vor meinem inneren Auge auf. Ein regnerischer Tag im April. Splittern. Dunkelheit.

„Es war ein Autounfall. Du warst dabei, ihr wart zu dritt unterwegs. Du bist mit einer leichten Kopfverletzung davongekommen, aber hast dabei ein Trauma erlitten.“ „Trauma?“, flüsterte ich. Meine Stimme schien von weit weg zu kommen. „Ein Trauma ist eine furchtbare, ängstigende Erfahrung. Diese starken seelischen und manchmal auch körperlichen Schmerzen sind für einen Menschen nicht leicht zu verarbeiten, darum werden die Erinnerungen daran unterdrückt. Deshalb vergisst du oft, was passiert ist.“ Oma schluckte schwer. „Du redest mit ihm. Mit Theo. Am Anfang haben wir nicht verstanden, was du da tust. In deiner Vorstellung ist er aber noch da. Die Ärzte sagten, das sei nicht selten nach so einem Schicksalsschlag.“ Ich schüttelte den Kopf, ich wollte ihr nicht glauben. „Das kann nicht sein.“ Mir wurde ganz mulmig zumute und langsam stieg die Angst in mir hoch. „Sie hat recht“, hörte ich auf einmal jemanden neben mir sagen. Ich wirbelte herum. Theo. „Wie…?! Aber…du bist doch hier! Ich kann dich sehen, verdammt!“ Fassungslos starrte ich meinen Bruder an. „Oma! Du siehst ihn doch auch, oder? Schau doch, neben mir!“ Oma schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich konnte die Traurigkeit in ihren Augen sehen.

„Nur du kannst mich sehen. Eigentlich bin ich nur in deiner Fantasie hier“, erklärte Theo. Das war zu viel für mich. Ich sank langsam zu Boden und schaukelte hin und her. Wie war das nur möglich? Theo schien zu spüren, was in mir vorging. Er setzte sich mir gegenüber hin und sah mich an. „Das ist nicht leicht zu verstehen. Aber du sollst wissen, dass es mir gut geht, da, wo ich jetzt bin. Opa passt auf mich auf.“ Theo lächelte mir aufmunternd zu. „Du musst dir keine Sorgen machen. Von da oben kann ich auch gut auf dich achten.“ Er deutete in den Himmel. Nachdenklich blickte ich hinauf in das helle Blau. Kleine Wolken zogen rasch vorbei und schoben sich immer wieder vor die Sonne.

„Bist du wirklich dort?“, fragte ich unsicher. Es war nur schwer vorstellbar, wo er doch gerade vor mir saß, hier, auf dem Friedhof. „Ja. Es ist wunderschön. Aber erst, wenn du mich nicht mehr festhältst, werde ich vollständig da sein können.“ Ich schloss die Augen und versuchte, zu verstehen. Was redete er da? „Du musst versuchen, die Vergangenheit loszulassen. Schau nach vorne! Es ist an der Zeit. Bitte lass mich gehen.“ Ich spürte, wie mir Tränen die Wange herunterliefen, doch ich nickte langsam. Sprechen konnte ich nicht, dafür saß der Kloß in meinem Hals zu fest. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass er Recht hatte. Auf einmal war Theos Stimme ganz dicht an meinem Ohr und ich fühlte einen zarten Windhauch, der mich wie eine Umarmung umfing. „Du wirst mich vielleicht nicht mehr sehen können, aber ein Teil von mir wird immer bei dir bleiben.“ Mit diesen Worten wurde seine Stimme leiser und war schließlich nur noch ein Flüstern, das vom Wind davongetragen wurde. Als ich die Augen öffnete, war Theo verschwunden. „Mach’s gut“, murmelte ich ihm hinterher.

Ich blickte auf den Grabstein und atmete einmal tief durch. Dann wandte ich mich zu Oma um, die ein paar Schritte abseits wartete. Sie hatte das Gespräch zwischen Theo und mir natürlich nur zur Hälfte verfolgen können, das war mir jetzt klar. Vielleicht sah es auch für andere Menschen seltsam aus, doch das spielte keine Rolle für mich. Sie hatten nicht das gleiche erlebt wie ich. Sanft nahm Oma mich in den Arm und streichelte mir über den Kopf. „Wir machen alle gerade eine schwere Zeit durch. Aber wir schaffen das.“ So wie sie es sagte, klang es wie das Sicherste auf der Welt. Ich konnte darauf vertrauen. „Deine Eltern haben ein schlechtes Gewissen, weil sie dich so oft alleine lassen. Es ist auch nicht einfach für sie, doch die Arbeit lässt sie eine Weile den Schmerz vergessen. Aber ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst.“ Ich lächelte ein wenig, als ich antwortete: „So allein bin ich gar nicht. Ich habe jetzt einen Schutzengel.“

Bild mit freundlicher Genehmigung von © Jelena Kern