Stand: Jetzt #6

…ich kenne alle Nachbarn beim Namen. Chris und seinen weißen Hund Swiffer, das Promipärchen Trude und Gert (Namen geändert), Techno-Uwe, der direkt unter Aerobic-Sandy wohnt, und natürlich die neurotische Gabi im Dachgeschoss.

„Ich glaube, Chris geht es nicht so gut.“, ruft meine Mitbewohnerin aus der Küche. Ich quetsche mich neben sie an das schmale Fenster und beiße von der Breze ab, die sie mir vor die Nase hält.

„Führt er wieder Selbstgespräche?“

„Mhm“, macht sie, schluckt und fährt dann besorgt fort „trinkt den ganzen Tag Espresso und raucht eine nach der anderen.“

Chris kennen wir am längsten. Sein Balkon liegt direkt gegenüber von unserem Küchenfenster, er wohnt dort mindestens schon so lange wie wir. Sein Job bei BMW im Marketing ist gut bezahlt, aber ziemlich stressig, deswegen raucht er ja auch so viel. Der Chris, der sollte besser auf sich achten, da sind wir uns einig.

„Sieht schon ganz grau aus.“, fährt meine Mitbewohnerin fort, bevor sie sich das letzte Stück Breze in den Mund schiebt, „Daf Homeoffiff tut ihm nifft gut.“

Wir hören den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür, ein „Hallo“ unserer anderen Mitbewohnerin aus dem Flur und mindestens 20 Sekunden (!) Wasserrauschen aus dem Bad, bevor sie in die Küche stürmt und zwei prallgefüllte Jutebeutel auf die Küchenzeile hievt. „Boa Leute, Aerobic-Sara beschallt schon wieder das ganze Viertel!“

„Sandy, Aerobic-Sandy.“, korrigiert Mitbewohnerin 1, während ich schon das Fenster aufreiße und mich hinauslehne, um auf Sandys Balkon sehen zu können. Tatsächlich, der Wind trägt laute Musik zu uns in den sechsten Stock, zu welcher Sandy im 80er Jahre-Kultoutfit rhythmisch auf ihrem Balkon herumhampelt und dabei lächelt, als wäre sie im Studio von Tele-Gym und die Straße ihre Kamera.

„Was ist sonst so los?“

„Nichts Besonderes, Gabi hängt Wäsche auf, klar, und Trude hackt in der Küche auf ihren Thermomix ein.“

„Diese Zeit macht komische Dinge mit den Leuten.“, meine ich kopfschüttelnd und gebe Mitbewohnerin 1 den Platz am Fenster frei. Ich setze mich zu Mitbewohnerin 2 an den Küchentisch. Mein Blick fällt auf den Boden.

„Putzen könnten wir mal wieder.“

Mitbewohnerin 2 schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Falls unangekündigter Besuch vorbeikommt, oder was?“

Ich hänge gedanklich noch in der Frage fest, ob ich finde, dass wir auch einfach so für uns putzen könnten oder ob ich finde, dass sie recht hat und ein sauberer Boden gerade nicht Prio1 hat, da ertönt ein lautes „Ne!“ aus Richtung des Fensters.

„Trude und Gert haben Besuch – und ihr glaubt nicht von wem!“ Sie dreht sich zu uns um, ihre Augen funkeln, irgendetwas zwischen Begeisterung und leichtem Wahnsinn liegt darin. Diesen Blick kenne ich bei ihr normalerweise nur, wenn sie von einem ihrer Konzerte nach Hause kommt.

„Gerts Promi-Vater!“

„Was?“, entfährt es mir. „Der ist doch Risikogruppe!“

Ich springe auf, aber Mitbewohnerin 2 ist schneller am Fenster. „Gut, dann setz ich wohl mal Kaffee auf.“

„Kaffee? Ich hab‘ Sekt mitgebracht.“, ruft sie auf die Straße. Erst als ich nicht reagiere, weil ich mir nicht sicher bin, ob sie es ernst meint, dreht sie sich zu mir um.

„Wie oft werde ich in den nächsten zwei Jahren die Gelegenheit haben um…“ Blick auf die Uhr über dem Boiler „…viertel nach elf anzufangen Sekt zu trinken? Fänden die Eltern meiner Schüler bestimmt nicht so stark.“

„Also wenn das Homeschooling eins bewirkt, dann ja wohl, dass sie dafür Verständnis haben werden.“, entgegnet Mitbewohnerin 1, die sich inzwischen ein Kissen zwischen Arme und Fensterbrett gelegt hat.

Wir lachen, ich nehme drei Gläser aus dem Schrank und öffne den Sekt. Da am Fenster kein Platz mehr für mich ist, setze ich mich wieder an den Küchentisch. Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit, noch bevor ich einen Schluck Sekt getrunken habe. Ich beobachte meine Mitbewohnerinnen, die das Geschehen in der Wohnung gegenüber direkt kommentiert an mich weitergeben.

Diese Zeit macht komische Dinge mit den Leuten.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Kristina Andabak | Pfeil und Bogen