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Der Bogenschütze ist nackt. Er hasst den Nahkampf, er hasst Schwert, Schild, Helm und Visier – und erst recht die bleierne Kugel. Er ist tagelang allein unterwegs, im Dschungel, in freier Wildbahn. Witternd, die Entfernungen schätzend, ist er ein Athlet der Kalkulation und der Berechnung. Wo sind genau die lohnenden Ziele? Wie nähert man sich ihnen?
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Sein Metier ist die seltene, nie zuvor gesehene Flugbahn. Das Spannen der Sehne, der Moment, da das Auge mit dem Ziel eins wird. Der Pfeil wird nicht geschossen, sondern von der Sehne erlöst. Eine kurze Musik, die Sehne schwingt nach, und der Bogen erstarrt. Wer hat ihn geschaffen? Es gibt ihn nur einmal, ein Bogen ist das Produkt singulärer, beharrlicher Arbeit: Das Holz eines Halbkreises, die große, dem menschlichen Körper nachgebildete, starke Gestalt.
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Bogen, Sehne und Pfeil kooperieren auf ideale Weise. Der Bogen als statischer Leib, die Sehne als zitternde, für Sekunden aufbrausende Triebkraft – und der Pfeil als das gefiederte, feine Geschoss, dessen Flugbahn das scharfe Auge verfolgt.
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Der Leib, die Hand und das Auge – sie inszenieren eine verborgene, geheim gehaltene und nur vom Ereignis belohnte Aktion. Der Treffer ins Schwarze ist das alleinige Ziel, nicht die Verletzung und erst recht nicht der Tod des Gegners. Eher das Empfinden, die verschiedensten, bisher noch nicht entdeckten und getroffenen Verstecke anvisieren und markieren zu können. Dieser Schuss sitzt, er trifft etwas, das noch keiner benannte!
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Pfeil und Bogen bedeuten: Einen Abschied vom steinzeitlichen Kampf der Jahrtausende, eine Erotik des Treffers und eine Besinnung auf Verwandtschaften altjapanischer Herkunft. Das Bogenschießen als eine Form der Anspannung, der Meditation, des Zögerns vor der Bereitschaft, den Pfeil zu entäußern. Nach dem Schuss das Innehalten und die Übersetzung der Flugbahn in den zurückgebliebenen, entblößten Leib. Schwingt er mit? Und landet der Treffer da, wo sein schönstes Ziel auf ihn wartet? Im Schwung des Schützen, in der Versicherung, dass seine Leidenschaft ihr Ziel gefunden und sich erfüllt hat?
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So gesehen, ist „Pfeil und Bogen“ der Umschlag einer archaischen, an Höhlenbildern zu studierenden Herkunft. Sie führt zur modernen Artistik des Sports und zur ästhetischen Suche nach der Eleganz des plötzlichen, gegenwärtigen Schreckens. Entkleiden wir uns, spannen wir die Sehne, legen wir den Pfeil an und richten wir ihn auf Ziele, die uns wert erscheinen, das Gift des Pfeils zu trinken.
Weiterführende Literatur:
Martin Mosebach: Die Kunst des Bogenschießens und der Roman. München 2016
Jörg Musäus: Aus der Mitte ins Ziel. Bogenschießen als methodisches Medium der Supervision. Heidelberg 2011
Eugen Herrigel: Zen in der Kunst des Bogenschießens. (Neuausgabe) München 2011
Feliks. F. Hoff: Kyudo. Die Kunst des japanischen Bogenschießens. 11. Auflage, Berlin 2005
Richard Kinseher: Der Bogen in Kultur, Musik und Medizin als Werkzeug und Waffe. Zweite, überarbeitete Auflage. Norderstedt 2003
Rykle Borger: Der Bogenköcher im Alten Orient, in der Antike und im Alten Testament. Göttingen 2000
Renate Tölle-Kastenbein: Pfeil und Bogen im antiken Griechenland. Bochum 1980
Alfred Hasemeiner. Bogenschießen. Kunst und Sport. Stuttgart 1972
Thomas Marcotty: Bogen und Pfeile. München 1958