Mit dem Kiosk im Gepäck: Olgas Weg zum Glück

Text und Illustration (c) 2019 by Anete Melece

Anete Melece legt mit “Der Kiosk” im Atlantis Verlag 2020 erschienen ein Bilderbuch der besonderen Art vor. Alleine die Bilder des Buches erzählen so präzise, dass es des begleitenden Textes für sehr aufmerksame Leser*innen wohl gar nicht mehr bedürfte. Diese außergewöhnlich dichte, fast filmische Art mit Bildern zu erzählen, erklärt sich wohl auch daraus, dass das Buch auf einem animierten Kurzfilm der Autorin mit beinahe identischer Handlung basiert.

Olga ist eine Kioskbesitzerin mit einer Stammkundschaft und scheint sich eigentlich gut in ihrem Berufsalltag eingerichtet zu haben. Doch Olga hat auch Fernweh und träumt von Sonnenuntergängen am Meer. Eines Tages bemerkt sie, dass sie den Kiosk anheben und sich mit ihm zusammen durch die Stadt bewegen kann. Durch einen Unfall fällt Olga samt Kiosk in den Fluss, der sie bis zum Meer treibt.

Es ist zwar keine unbekannte Erzählstruktur: Sie wird aus dem Alltag gerissen und reist in eine ihr noch fremde Welt. Man denke an den Aufbau eines Abenteuerromans. Aber einiges ist dann doch überraschend an Olgas Abenteuer.  Einerseits lässt Olga ihren Alltag gar nicht wirklich zurück, sondern nimmt ihn mit auf ihre Reise. Andererseits ist Olga auch keine typische Figur für ein Kinderbuch.

Alltägliches und Außergewöhnliches

Die Welt, in der Olga ihren Kiosk betreibt, wird für Leser*innen aus einer westlichen Industrienation wohl sehr vertraut erscheinen. Das Übernatürliche kann dabei fast übersehen werden, denn es zeigt sich nicht mit großer Geste. Es wird ganz diskret eingebaut z.B: wenn Olga ihren Kiosk anheben und wie ein Schneckenhaus mit sich herumtragen kann, obwohl der doch ihr ganzes Sortiment enthält und alles, was sie zum Leben braucht. Auch als Olga in den Fluss stürzt, kommt ihr das Schicksal entgegen und verwandelt den Unfall in eine wundersame Reise, die sie schließlich unversehrt bis an ihren Traumstrand führt. Eine Reise, die Olga ein wenig Freiheit schenkt – wenn auch keine Befreiung vom Kiosk selbst – und die Gefahren einer solchen Reise in den Hintergrund rückt. Die Leichtigkeit der Reise also kann umso besser wirken, da Olgas Alltagswelt vorher geduldig aufgebaut wurde.

Text und Illustration (c) 2019 by Anete Melece

Olga wird dabei als eine Kioskbesitzerin vorgestellt, die sich durchaus schon mit ihrer Situation arrangiert hat. Nur wenn sie sehr gestresst ist und an ihr Fernweh erinnert wird, schleicht sich ein melancholischer Ausdruck in ihr Gesicht. Olgas Laune allein ist es aber nicht, die die Atmosphäre eines stressigen Alltags hervorbringt. Vielmehr gelingt Melece durch ihre Figurendarstellung die Atmosphäre einer ganzen Stadt im Alltag einzufangen.

Text und Illustration (c) 2019 by Anete Melece

Sogar Nebenfiguren scheinen auf den doppelseitigen Illustrationen immer in einem bestimmten Moment ihres Tagesablaufes erfasst zu sein und treten so nicht als Statisten, sondern als Individuen auf. Zentral für die Atmosphäre der Alltäglichkeit sind auch Entscheidungen in der Gestaltungstechnik. Die Mimik der Figuren ist ähnlich wie in einem Comic vereinfacht und erleichtert so sich einzufühlen. Das Übrige tut die traditionelle und analoge Arbeitsweise. Der lockere Farbauftrag, die Mischtechnik und gesättigte Farbgebung verleihen der Erzählung einen leichten Tonfall. Und schließlich der Beschreibungstext, der durch kurze Sätze und Ausdrücke wie “Knuspersachen” ein Moment der Umgangssprachlichkeit hereinbringt.

Wurde Olgas Welt zensiert?

Bleiben wir beim Thema der realitätsnahen Umsetzung der Figur “Olga“, stoßen wir ebenfalls auf eine Form der Realität, die selten Einzug in Kinderbücher enthält: Konsumkultur und Sex. Die Hintertür, die Olga im Kiosk festhält, stellt somit auch eine Hintertür zu alledem dar, was Kindern verwehrt bleiben soll. Trotz des realistischen Anspruchs baut Melece die schattigeren Seiten des Erwachsenenlebens sorgsam, unauffällig und sanft in Olgas Welt ein, denn keine Kindheit kann unter ständiger Beobachtung passieren; Berührungspunkte mit Thematiken wie diesen nicht zu jedem Zeitpunkt verhindert werden:etwa durch einen Mann, der am Seitenrand mit einem Erotikmagazin unter den Arm geklemmt verschwindet-, nur die nackten Beine sind gemalt zu erahnen. Oder durch einen alten Kettenraucher, der mit seiner gelb-grünen Haut auf ganz befremdliche Art aus der Ansammlung individuell geprägter Figuren heraussticht, uns aufzeigt, wie der Tabakkonsum schädigen und krank machen kann.

Auffällig hierbei ist allerdings, dass, die beiden Figuren im Buch ein Randdasein führen, während sie im Animationsfilm eigene, ausführliche und eindeutige Szenen bekommen. Ob die Entscheidung für diese Rücknahme bei der Autorin selbst oder aber dem Verlag lag, bleibt unbekannt. Ihren Platz erhält die reale Welt draußen vor den Kioskläden auf jeden Fall immer. Olga möchte nicht perfekt sein, ihre Welt ist es auch nie.

Text und Illustration (c) 2019 by Anete Melece

Wofür steht ein Kiosk?

Der Kiosk als Bild scheint essentiell für die Aussage der Geschichte zu sein. Olga ist anfänglich komplett festgesetzt in dem Kiosk, kann sich nicht aus ihm heraus bewegen und ihn nicht verlassen. Der Kiosk bestimmt sie und ihr Leben und lässt ihre Träume wie ferne Sehnsüchte erscheinen. Als sie jedoch zum ersten Mal bemerkt, dass sie sich mit dem Kiosk bewegen kann, ergreift sie die Initiative und nutzt ihre Freiheit, um die Stadt zu erkunden. Sie schafft es trotz des Kiosks ihr Ziel zu erreichen: Ihre Arbeit als Kioskverkäuferin und ihr Traum schließen sich nicht aus. Olga bemerkt, dass sie sich gar nicht verändern muss, um ihren Traum zu verwirklichen. Sie lernt, dass sie es selbst in der Hand hat: Und inklusive Kiosk den Sonnenuntergang genießen kann, statt ihn bloß in alten Reisemagazinen zu betrachten.

„Der Kiosk“ schafft es erfolgreich ohne viele Worte den Leser*innen vor Augen zu führen, dass wir unser Leben und unsere Träume in die Hand nehmen können. Die angebotene Lösung ist aber keine einfache Flucht aus dem Alltag. Olga wird auch nicht vor die Wahl gestellt, den Kiosk oder ihre Träume aufzugeben, oder dazu gezwungen abzunehmen, damit sie den Kiosk verlassen kann. 

Text und Illustration (c) 2019 by Anete Melece

Selbst, wenn wir durch etwas eingeschränkt sind, heißt das nicht, dass diese Sache uns kontrollieren und lenken muss. Wir können trotzdem unsere Träume erreichen. Oder in Olgas Fall: Wir können den Kiosk an der großen Hauptstraße einfach zum Strand tragen.

Abenteuer mit Kompromiss

Obwohl Olgas Reise in ihrem eigenen Kiosk-Häuschen mit einem Augenzwinkern inszeniert wird, verhandelt die Geschichte durchaus ernste Motive. Einmal das, was alles zum Sortiment eines echten Kiosks gehört. Aber auch Olgas manchmal monotones Leben als Kioskverkäuferin und der stressige Alltag in der Stadt und nicht zuletzt der Wunsch aus beidem auszubrechen. Doch Melece macht es sich nicht zu leicht und bietet als Lösung einen Kompromiss an. Olga kann ihren Kiosk nicht einfach aufgeben, will es wahrscheinlich auch gar nicht. Statt einer radikalen Veränderung, in der Olga alles ihrem Traum opfert, findet sie einen Weg ihre Arbeit und ihren Traum miteinander zu verbinden.

Ein Text von Arne Hofmann, Jacquelin Assel und Sophie Romy

Bild mit freundlicher Genehmigung von Orell Füssli Verlag