Ihre Eltern kämen nicht zu Weihnachten, sagte Frau F. beim Tee. Sie sagte es, als wäre nichts dabei und gleichzeitig, als müsste sie es mir erklären, in ihrer klaren Sprache, die keinen Buchstaben verschluckte. Ich schlürfte aus der dünnwandigen Porzellantasse und wartete. Da dachte ich zum ersten Mal, dass Frau F. alt sein könnte. Sie verstehe das schon, sagte sie, dass es schwierig sei für ihre Eltern, weil, nun, Deutschland und auch noch Winter. Dann werde sie eben fliegen, nach Santiago.
Im Flur zu Frau F.s Unterrichtsraum hingen seit Jahren dieselben zwei Bilder. Das eine zeigte Zeichnungen einer Gitarre von vorn und im Querschnitt, jedes Bauteil mit Tusche beschriftet. Das andere, ein Aquarell, zeigte eine Straße in bunten Farben. Das Ocker der Häuser verlief im Blau eines angedeuteten Himmels, Gelb eines Kleides ins Grün der Bäume. Bei meinen ersten Gitarrenstunden hatte ich viel Zeit vor diesen Bildern verbracht, nicht weil ich sie so schön fand, sondern weil mir nichts Besseres zu tun eingefallen war.
Früher, sagte ich, hätte Santiago für mich wie ein Ort aus einem Märchen geklungen, wie Eldorado vielleicht. Wäre das hier ein kitschiger Film, lächelte Frau F. nun traurig, spähte durch die offene Tür auf das Aquarell im Flur und sagte: Sí, ein Märchen. Stattdessen führte Frau F. die Tasse zum Mund und sagte nichts.
Nach dem Unterricht brühte Frau F. uns Tee in der Kochnische ihrer Unterrichtsräume. Auf dem storchenbeinigen Tisch am Fenster stand eine geöffnete Schachtel mit herzförmigen Pralinen. Wahrscheinlich handelte es sich um die vorweihnachtliche Aufmerksamkeit einer anderen Schülerin. Ob ich mir schon viele Gedanken mache, wegen der Aufnahmeprüfung, fragte sie, als wir am Tisch saßen und die Tassen vor uns dampften. Ich nahm mir ein Schokoladenherz, drehte es zwischen den Fingern und versuchte, das Gefühl in mir zu ordnen. Die Prüfung sei es nicht, was mich beschäftigte, sagte ich. Schließlich hätte ich bis dahin noch Monate Zeit.
Ich guckte aus dem Fenster in den Hinterhof mit der Kastanie, deren Zweige noch unbelaubt waren. Wenn ich mir vorstellte, ich würde angenommen, dann zöge ich ja fort. Dann wäre das alles hier irgendwie nicht mehr Teil von meinem Leben und meine Eltern sähe ich auch nicht mehr häufig. Die Praline schmolz in meinen Händen und machte die Finger klebrig. Rasch steckte ich die Schokolade in den Mund. Frau F. sah mich an und runzelte die Stirn. Sie sagte, ich hätte hier schon eine Heimat. Und es klang, als müsste sie das feststellen, nicht für mich, sondern für sich. Ich sah runter auf die Schokolade an meinen Fingerkuppen und wusste nicht, wohin mit den Händen.
Warum ihre Eltern sie nicht besuchten, fragte ich nach der letzten Stunde vor Weihnachten, als sie ihre Gitarre in den Ständer zurückstellte. Es war die Konzertgitarre mit heller Fichtendecke, die ich so gerne einmal gespielt hätte.
Frau F. drehte sich nicht um zu mir, als sie sagte, das sei eben die BRD, auch wenn es Westdeutschland nicht mehr gäbe, aber die Erinnerungen seien nicht die besten, und mit der Sprache hätten sie immer Probleme gehabt.
Obwohl wir mit den Stücken für die Aufnahmeprüfung begonnen hatten und Bach beinahe meine ganze Zeit beanspruchte, spielten Frau F. und ich immer noch zweistimmige Milongas. Ich fragte mich, ob Frau F. Tangos aus einer unbestimmten Sehnsucht heraus mochte, wie sie das Aquarell von Santiago aufgehängt hatte.
Bei Frau F. war das wohl folgendermaßen, erfuhr ich irgendwann nach Weihnachten, Santiago und dann Valparaíso und der 11. September, Pinochets Machtübernahme. Ihr Vater schon Musiklehrer, spielte viel Nueva Canción. Tage hätten sie in der Deutschen Botschaft verbracht, schließlich Westdeutschland, Bonn. Und Frau F. hatte nicht einmal die Sprache gekonnt. Dass sie Westdeutschland sagte, als sei das nötig verwunderte mich. Ob sie mit ihren Eltern denn Spanisch redete, wenn sie sich sähen, fragte ich. Frau F. sah auf ihre Hände auf der Tischplatte, die linke mit kurzen, die rechte mit langen Nägeln. Spanisch, natürlich. Aber sie sei ja erst sechs gewesen, als sie Santiago verlassen musste, und dann hätte sie sich viel Mühe gegeben mit dem Deutschen.
Sie sprach jedes E mit, auch alle in gegeben, und ich fragte mich, ob es sie immer noch anstrengte, aber das auszusprechen fühlte sich sehr unhöflich an. Also bedankte ich mich für Tee und Pralinen, schulterte meine Gitarre und verabschiedete mich. Zuhause erzählte mir das Internet, Pinochets Militärputsch war ’73, da gab es Ost und West, da gab es Westdeutschland und du warst noch lang nicht geboren. Du hast keine Ahnung vom Kalten Krieg.
Es wurde März, ein Frühling voller grauer Himmel, aber an manchen Tagen konnte man schon ohne Jacke das Haus verlassen. Ich dachte nach. Es war nicht mehr so fern, dass ich das Abitur schrieb und die Aufnahmeprüfung ablegte. Bald ginge ich nicht mehr zu Frau F.s Unterricht. Und was sollte ich ihr zum Abschied schenken? Pralinen wären wohl lächerlich, selbst die handgemachten von der Konditorei am Marktplatz im Goldpapier.
In der BRD, vor allem aus den Unionsparteien, erzählte mir das Internet, erfuhr Pinochets Militärdiktatur Unterstützung, Franz Joseph Strauß reiste nach Santiago, den Staatschef zu besuchen. Warum es wichtiger war, dass ein Land nicht kommunistisch wurde, als dass es den Menschen gut ging, fragte ich mich nach der Gitarrenstunde an meinem Schreibtisch. Und warum ich diese Dinge im Internet las. Ich schaute auf die Stehordner mit meinen Schulsachen, nach Fächern sortiert. Wenn ich fortzöge, könnte ich hierher zurückkommen und die Dinge veränderten sich so langsam, dass nicht mal ich es merkte. Niemand schriebe einen Wikipediaartikel darüber.
Aus dem Wohnzimmer hörte ich den Fernseher, eine Quizsendung, die Mama und Papa gerne schauten. Warum ich Frau F. nicht einfach fragte, nach diesen Dingen, es war wie Musik hören, die ein Mensch mochte, in den man sich verliebt hatte, in der Hoffnung, ihn so zu verstehen. Nur anders. Es war gleichzeitig hinterhältig und diskret und was man herausfand, war verfälscht.
Ich stellte mir vor, dass Frau F. stolz auf mich wäre, wenn man mich an der Musikhochschule nähme. Dann würde ich fortziehen. Und als Abschiedsgeschenk könnte ich ihr ein Stück schreiben, eine Milonga vielleicht.
Ich hätte ein bisschen was gelesen, sagte ich, als ich nach der Stunde die Notenblätter zusammenschob. Frau F. saß noch da, ihre Konzertgitarre auf dem Oberschenkel und den Fuß auf dem Bänkchen. Über Chile und Pinochets Diktatur und die Unterstützung von den USA und der BRD, sagte ich, während ich die Noten in die Tasche packte. Der Reißverschluss klemmte. Ich rüttelte en bisschen daran, doch er bewegte sich nicht. Und, fragte Frau F., ob mir etwas klarer geworden sei. Ich wisse es nicht, sagte ich. Frau F. stand auf und legte die Gitarre in ihren Koffer. Als sie die Schnallen zuklappte, hörte ich die Saiten leise nachklingen. Zur nächsten Woche solle ich den dritten Satz aus der Bachsuite üben, sagte sie. Und ein wenig Kadenzen schreiben könne auch nicht schaden. Als ich mich zu ihr umdrehte, zuckten ihre Mundwinkel. Ob ich noch einen Tee wolle, bevor ich ginge, fragte sie.
Wenn ich ein Stück über Frau F. schriebe, müsste ein Teil des Stückes Ich sein, die über sie schriebe. Es wäre keine Milonga, aber ich würde Teile aus der Milonga von Jorge Cardoso zitieren. Dabei müsste der Zeigefinger in der Bassstimme über den ersten Bund von b zu einem gedämpften h rutschen, so, wie ich mich verspielte. Und ein Teil müsste so aussehen: Notenlinien, leer, bis auf den Violinschlüssel. Darüber stünde: Frau F. spielt.