Benefeld
© Lena Beyer

Meteor

Jedes Mal, wenn du hier bist, hebst du kurz den Blick vom Marmorboden. Das Foyer hat eine hohe und schwere Decke, gestützt von schmucklosen Pfeilern. Du weißt nicht, was du bei dem Anblick genau fühlst, es ist nie ein angenehmes Gefühl.

Jetzt nimmst du die wenigen Stufen, trittst in den langen Flur, der gleich anschließt. Links und rechts sind symmetrisch gegenüber schwere Holztüren mit rechteckigen Oberlichtern eingelassen. Jede ist gleich, wie Copy Paste, du kannst die Zahlen an den Schildern neben den Türen nicht ganz erkennen. Die Träger deines Rucksacks schneiden dir in die Schultern. Deine Schritte sind leise, es geht voran, da legt sich eine Hand auf deine Schulter und du senkst wieder deinen Blick auf die marmornen Kacheln.

Du kennst die Geschichte der Gebäude nicht. Du weißt nicht, was Zwangsarbeiterinnen in deinem Alter in die Türen ritzten, als sie im Keller eingeschlossen waren, es wäre dir wahrscheinlich auch egal, weil das lange nach dir ist. Aber die, denen die Hände gehören, die sich ab und an auf deine Schultern legen, wissen es. Sie sagen nichts. Dazu haben sie sich entschieden.

Marlene S. dagegen weiß genau, für was die Gebäude genutzt wurden. Sie ist aber vollkommen woanders: Sie steht im Wald. In ihrer Hand brennt ihre letzte Zigarette, aber das weiß sie grad noch nicht. Ihr Leben war in letzter Zeit von Enttäuschungen geprägt und seit kurzem hat sie das Gefühl, selbst eine zu sein. Das liegt an Frederike. Und an dem Alkohol. Und an ihren Eltern. An früher. Und noch viel mehr an ihr. Und vielleicht doch viel mehr am Alkohol. Und das Rauchen wird sie auch umbringen. Also nimmt sie noch einen tiefen Schluck aus der Emil-Flasche, die sie seit Schultagen mit sich rumträgt und in der sie Rum trägt, verzieht das Gesicht und trifft gleich die bis dato viertwichtigste Entscheidung ihres Lebens. Gleich nach Niemals Schuhebinden zu lernen, Architektur zu studieren und sich in Frederike zu verlieben.

Die Hand auf deiner Schulter gehört deinem Lehrer. Du gehst voraus, du weißt, in welchen Raum ihr gehen werdet. Kurz hinter dir klacken seine Absätze. Also gehst du den Flur weiter hinab, der dir viel zu lang erscheint – das schlechte Licht und die stickige Luft machen dir Kopfschmerzen, gleichzeitig fühlst du dich seltsam betäubt. Die Tür des Lehrerzimmers am Ende des Flurs kommt langsam auf dich zu.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Lena Beyer