Riah ‚Martinique’ Morell, steht an dem kleinen Fenster ihres Apartment in der W 16th Street, in dem sie seit fast zwanzig Jahren wohnt und schaut auf die jungen Menschen herab, die vorbeiströmen. Love. Es sind überraschend viele in weißen Shirts und sie entscheidet sich, das für einen Zufall zu halten. Es sind heiße Sommertage und der präferierte Yuppie-Style der Nachbarn setzt sich aus schwarzen Birkenstocks, kurzen schwarzen Höschen und einem weißen T-Shirt zusammen.
Sie nippt an ihrem Süßholztee, der noch immer viel zu heiß ist und geht noch einmal die Punkte der Rede durch. Sie hat sie sich ausgedruckt und trägt sie seit Stunden durch das kleine Apartment. Ihre Brille kann sie gerade nicht finden, also drückt sie ein bisschen die Augen zusammen.
Sie hätte sich früher nie eine Aktivistin genannt. Eher eine, die um ihr Überleben kämpft. Die den täglichen, brutalen Ungerechtigkeiten, denen Frauen wie sie ausgesetzt sind, zu widerstehen versucht. Die versucht, den Tag hinter sich zu bringen, ohne angespuckt, geschlagen zu werden, oder schlimmer noch. Nein, auch heute würde sie sich nicht als Aktivistin bezeichnen. Aktivistin, das ist eine Zuschreibung von Außen.
Dem Außen, das seit Jahrzehnten die Freiheiten genießt, für die Frauen wie sie gekämpft haben, für die sie jeden Tag weiterkämpft. Dem Außen, das ihnen trotz alledem keinen Platz in seiner Mitte geben will.
Frauen wie sie. Schwarze Frauen. Schwarze Transfrauen. Frauen. Die mit jedem Schritt den sie gehen, jedem Atemzug, tödlicher Gefahr ausgesetzt sind.
Eine Gefahr, die sie nicht sehen wollen, die weißen Faggots in ihren Penthäusern im Village. Mit ihren Regenbogen-Shirts amerikanischer Traditionsunternehmen, die sich für Pride Month ein paar Diversity-Sticker an die Schaufenster geklebt haben, hergestellt im Gefängnis durch Sklavenarbeit. Auf dem Regenbogen, den sie tragen, kommen Frauen wie sie, nicht einmal vor.
Frauen, die ihr Leben gegeben haben, um Freiheit zu bringen. Frauen, die voller Strahlkraft sind, voller Schönheit, voller Göttlichkeit, die zuschauen müssen, wie Menschen, die ihre Familie sein sollten, auf Instagram Posts abdrücken, in denen sie feiern, wie weit die Community gekommen ist. #Werbung.
Sie ist alt geworden. Älter, als sie es sich je vorgestellt hat. Älter, als sie je zu träumen gewagt hat. Siebundsechzig Jahre. Nicht, dass es nicht ihr gutes Recht wäre, noch mit über Achtzig im bunten Frock vor den neureichen Hipstern einen fahren zu lassen, es schien ihr nur ein Ding der Unmöglichkeit, so lange auf dieser Welt zu bleiben. Lange genug um zu fragen:
Wo ist ihr Sponsorenvertrag?
Wo ist ihre Entschädigung für den Kampf?
Und sie wollen sie eine Aktivistin nennen?
Sie erinnert sich an ihre Anfänge in New York. An Stonewall, die ersten Märsche, sie war noch ein Kind, gerade von Oklahoma hergezogen, das erste Mal mit einem Kleid auf die Straße, nur bis zur nächsten Ecke, dann schnell wieder zurück. An Marsha und Sylvia, an das Gedicht, das Pat ihr im Frühling 1973 in San Francisco in die Hand gedrückt hat, an die Black Panthers. Sie erinnert sich an Janice, Leon, Marie, Ava, Jean, Paula, Patti, Akua, Annabella, Avery und Moon und alle anderen, die gestorben sind. An die Verwüstung, die HIV/AIDS hinterlassen hat.
Sie erinnert sich an die Zeit, als die Ballrooms aus allen Nähten geplatzt sind, an 1989, als sie ihre erste Trophäe in, Femme Queen Realness, mit nach Hause genommen hat. Das erste Jahr, in dem die Leute nicht ständig gestarrt, gespuckt, gelacht, geschlagen haben. Sie erinnert sich an Madonnas Musikvideo. Daran, dass sie dachte, jetzt wäre ihre Zeit gekommen.
Sie erinnert sich an die 90er, in denen die Partys immer heißer wurden, an Magda und die Überdosis Molly. Noch immer hatten sie nicht das Gefühl dazuzugehören. Dann die 00er Jahre, in denen allen sowieso alles, außer das heilige, verfickte Kapital, egal geworden war. Seit dem hatte sich kaum etwas verändert.
Doch die Proteste der letzten Wochen geben ihr Hoffnung. Schwarze Schwestern und Brüder erheben sich. Gegen Polizistenschweine. Gegen den Rassismus, die eigentliche Krankheit, die dieses Land zerfressen hat.
Aber trotzdem sterben Transpersonen weiter. Werden gefoltert, ermordet, abgeschlachtet. Erst letzte Woche wieder zwei verloren. Und für sie marschiert kaum jemand.
331 Morde an Trans- und nicht genderkonformen Personen im letzten Jahr. 27 in ihrem Land. Dem Land der Freien und Mutigen.
Fuck your bravery. Say their names.
Dana Martin Ellie Marie Washtock Jazzaline Ware Ashanti Carmon Claire Legato Muhlaysia Booker Michelle 'Tamika' Washington Paris Cameron Chynal Lindsey Chanel Scurlock Zoe Spears Brooklyn Lindsey Denali Berries Stuckey Tracy Single Bubba Walker Kiki Fantroy Jordan Cofer Pebbles LaDime “Dime” Doe Bailey Reeves Bee Love Slater Jamagio Jamar Berryman Itali Marlowe Brianna “BB” Hill Nikki Kuhnhausen Yahira Nesby Layleen Polanco Johana 'Joa' Medina
Sie zieht an der selbstgedrehten Zigarette, ascht aus dem Fenster und denkt an ihre Frau.
Ach Susanne. Sie hatte in vollen Zügen gelebt, geliebt und genossen. Sie hatten es gemeinsam geschafft, trotz so viel Leid, so lange zu überleben. Die ersten Jahre hatten sie auf den Straßen gearbeitet, was hätte sie sonst machen sollen, aber zum Glück vor dem ganzen AIDS. Dann nie wieder. Das hatten sie Larry und dem Geld zu verdanken. Und natürlich ihrem Job in der Bodega, in der sie noch immer am Wochenende sitzt, Zeitschriften, Kippen und seit neuestem auch Cornflakes verkauft. Letzte Woche waren da überall Fotos von einer komischen Ausstellung mit Fäkalien in Warschau, nächste Woche wird es wieder irgendetwas anderes Bescheuertes sein.
Wie viele von ihnen waren für Susas Beerdigung gekommen? Dreißig vielleicht. Die meisten, alte Schabracken wie sie. Aber sie waren gekommen. Aus Chicago und Memphis, von Nashville und sogar aus Berlin, nur um Lebewohl zu sagen. Ja, die vielen weißen Shirts mussten ein Zufall sein.
Es hatte in der Protestankündigung geheißen, man solle ein weißes Shirt tragen und leise sein. Genau wie 1917 bei der Silent Protest Parade der NAACP. 10.000 Schwarze Menschen waren gegen Rassismus auf die Straße gegangen. Ganz still, nur vom Klang der Trommel begleitet.
Sie schüttelt den Kopf, raucht den Rest der Zigarette, dann zieht sie den türkisen Bademantel etwas enger, streckt den Rücken und schließt das Fenster. Durch das enge Arbeitszimmer, an dem sie schon seit vielen Jahren an ihren Memoiren arbeitet, geht sie zu dem Bad, dass sie vor circa zehn Jahren selbst hier eingebaut hat. Unter dem Dach gab es vorher keins. Susa hat das nie gestört.
Sie seufzt, zieht den Duschvorhang vor und lässt das kalte Wasser auf sich niederprasseln. Dass nach alledem, sie alleine übrig geblieben ist, ist ihr unerklärlich.
Sie ist tatsächlich ein bisschen aufgeregt. Früher wäre das nicht passiert. Hundert Proteste, Schlachten, Verkündungen. Sie ist so oft auf eine Bühne getreten, meist ohne Vorbereitung, und hatte einfach losgelegt. Sie hatten sie Martin Luther Queen genannt, wie Baldwin, aber sie hatte immer abgewinkt. Lange her das alles. Den Zettel hat sie vorne auf dem kleinen Schemel mit dem Bademantel gelegt, damit er nicht nass wird.
Sie zieht heute ein kurzes, weißes Kleid und einen blauen Hut an. Sie setzt den Eyeliner geschickt, trägt Lippenstift auf, ein bisschen Rouge. Früher gab es keinen Rouge für dunkle Haut wie ihre, überhaupt nichts, wer es brauchte, musste es selbst machen. Heute gönnt sie sich manchmal den Luxus und bestellt ein paar Dinge ins Haus.
Sie betrachtet das Ergebnis zufrieden im Spiegel. Schon immer war sie schön. Und sie schenkt sich ein Lächeln.
Dann nimmt sie die große, rote Lacktasche, stopft die Rede rein und verlässt das Apartment. Sie will die Subway nehmen, hat heute den Mut dafür.
In der silbernen Büchse, sitzen schon wieder so viele Menschen mit weißen T-Shirts. Ganz unterschiedliche, viele jung, fast noch Teenager. Viele Schwarz, auch Männer. Und einige mit Flaggen. Nicht nur Standardregenbogen, auch die mit Blau und Pink und Weiß, oder die mit dem schwarzen Strich in der Mitte, die ihr persönlich am besten gefallen. Ein paar Black Power Fists sind auch draufgemalt worden und sie hebt das Gesicht und riskiert es. Ein Lächeln. Die strahlenden Augen einer jungen Frau fangen es ein. Sie senkt den Kopf.
Am Eastern Parkway – Brooklyn Museum, steigt sie aus. Die Station mit den vielen kleinen Artefakten abgerissener Gebäude aus New Yorks Vergangenheit, macht sie immer ein bisschen melancholisch, sie kann gar nicht genau sagen warum. Während sie sich die Stufen hochzieht, die Fahrstühle hätten schon vor Jahren fertig sein sollen, ist es nicht mehr zu bestreiten. So viele Menschen in weißen Shirts. Hunderte. Sie strömen an ihr vorbei. Ihr Herz springt in ihrer Brust. Mit einem Taschentuch tupft sie sich den Schweiß von der Stirn, tritt aus dem Bahnhof und schnappt nach Luft. Ihr entfährt ein kurzer, spitzer Schrei. Tausende.
Tausende Menschen in weißen T-Shirts haben sich vor dem Brooklyn Museum versammelt.
Sie schreitet durch die Masse an Körpern, vorbei an den vielen Stimmen, die kein bisschen leise sind. Hier ist einer bestimmt Neunzig und hier eine vielleicht Sieben, hier ist eine mit Blindenstock und jemand mit einem riesigen Stofftier auf dem Kopf und ihr Herz ist voll. Wie soll sie es überhaupt bis zu den Stufen schaffen, bis zu der aufgebauten Tribüne. Wenn Susa das hier gesehen hätte. Sie ist sich sicher, dass alle ihre Schwestern, jetzt von oben auf sie herabblicken und lächeln. Das hier ist Pride. Das hier ist, wie man protestiert. Nicht diese Kommerzpartys bei denen besoffen gackernde Hühner übereinandertaumeln und sich gesponsorten Vodka in die Kehle kippen.
Stonewall war ein Aufstand. Pride ist ein Aufstand. Und solange Ihr Überleben weiterhin ein Kampf bleiben würde, so war der Aufstand nicht vorbei. Wie schön zu sehen, dass es wenigstens diese Menschen verstanden haben.
Und da sieht sie die Hand ihrer Freundin, die sie zu sich winkt, mit einer herzlichen Umarmung empfängt, und die Stufen hinaufdrückt. Vor ihr, fünfzehntausend Stimmen. Scheinbar endlos breiten sie sich aus.
Es gibt sie noch, die Hoffnung.
Das wird morgen die Zeitschriften füllen. Front Page. Gut, dass sie so lange durchgehalten hat.
Sie strahlt Susanne zu, die von oben herablächelt und tritt ans Rednerpult.