Christian Lindner fasziniert mich. Wie ein heimliches Laster genieße ich es, die Reden des FDP-Chefs zu hören oder seine hochstilisierten schwarz-weiß-Wahlwerbespots zu schauen. Ich sehe darin eine Inszenierung, die Energie, Dynamik, Tatendrang ausstrahlt. Derweil ignoriere ich die leise Stimme in mir, die Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkungen anprangert. In der ästhetischen Lindnerwelt kann ich für einen Moment vergessen, dass die FDP in ihrer jüngsten Vergangenheit fast ausschließlich Politik gemacht hat, die ich ablehne.
Aber warum will ich in diese Lindnerwelt? Es ist nicht alleine die Schönheit des liberalen Märchens, das da erzählt wird; die Vorstellung von einer fairen, offenen Gesellschaft, in der man sich auf seine Bürgerrechte und die Verfassung verlassen kann. Die Faszination geht tiefer, ist persönlicher, hängt am Oberliberalen persönlich.
Man weiß von Linder einiges: Er fährt Journalisten in seinem Porsche durch die Gegend, besitzt einen Jagdschein und saß als Abiturient im Anzug im Klassenraum. All das ist mir eher wesensfremd und dennoch ist da ein leiser Verdacht, dass ich mich als Schüler ganz gut mit ihm verstanden hätte, selbst wenn er im Anzug gekommen wäre.
Mein ehemaliges Gymnasium in Hamburg liegt zwischen zwei Welten, auf der Grenze zwischen einem Viertel, das von Sozial- und Genossenschaftswohnungsbau geprägt ist, und einem voller Einfamilienhäuser, in deren Gärten auf Grillfeiern Champagner getrunken wird. Mit meinen Eltern bin ich in der Schulzeit von einer Wohnung in ein Reihenhaus gezogen, bei uns gab es aber höchstens Sekt im Garten. Mit den alten Nachbarn hatten wir über die Erster-Mai-Demo geredet, mit den neuen über günstige Zeitpunkte für den Heizölkauf.
Es ist wunderbar, dass meine Schulzeit so vielseitig war, ich vom Schulhof bis zur Haus- oder Wohnungstür Kontakt mit verschiedenen Milieus hatte. Ebenso schön ist, dass diese Zeit auch Freundschaften über diese Milieugrenzen hinweg ermöglichte. Auf die elterliche Yacht von Mitschüler J. wurde ich zwar nie eingeladen, aber immerhin zu Partys auf einigen beeindruckenden Grundstücken. Ich kann mir eine Parallelwelt vorstellen, in der auch Lehrersohn Christian Lindner auf meine Schule geht, in ebendiesem weltenvereinenden Kessel seine Ideen zur Marktwirtschaft (wegen der schönen Grundstücke), die aber sozial sein soll (wegen der Mitschüler°innen aus den Sozialwohnungen), entwickelt.
Und weil ich glaube, dass wir uns in dieser Parallelwelt gut verstanden hätten, obwohl er dann irgendwann Politik gemacht hätte, die ich nicht mag, lässt mich der Verdacht nicht los, dass da ein empathischer Kanal ist, auf dem Lindner und ich uns verstehen würden. Zum Glück liefert er selbst ein Mittel zum Test: 2017 hat er eine Autobiografie veröffentlicht. Falls es diese empathische Frequenz wirklich geben sollte, dann muss sie doch bei der Lektüre der Selbstinszenierung resonieren!
In bester wissenschaftlicher Manier werde ich diese Hypothese testen! Kapitel für Kapitel werde ich mich mit seiner Autobiografie auseinandersetzen und ich lade jede°n ein, an diesem Experiment teilzuhaben. Die Ergebnisse gibt es Woche für Woche in meinem empathischen Investigativpodcast “Licht auf die Schattenjahre” zu hören. Ich freue mich über jeden Hörer und jede Hörerin, nicht zuletzt, um ein externes Korrektiv zu haben, das mich rechtzeitig warnt, wenn ich zu lange in die FDP hineinblicke, wenn die FDP schließlich auch in mich blickt.