Das Schöne
Zuerst lebe ich in einer Einzimmerwohnung, die feucht ist und schimmelt, dann in einer anderen, in der ich mich wohl fühle, obwohl aus den Leitungen nur braunes Wasser kommt. Ich entwickle eine Routine. Stehe morgens früh auf, rauche auf dem Weg zum Bäcker, frühstücke und gehe zur Uni oder lese in der Bibliothek. Nachmittags spaziere ich durch die Kleingartensiedlung vor meiner Haustüre und den angrenzenden Park. Wenn ich nicht schlafen kann, laufe ich auch nachts, dann aber durch die Stadt. In den Plattenbauten brennt immer Licht. Aus der Entfernung fühle ich mich wohl zwischen so vielen Menschen. In der Dunkelheit können sie mich nicht sehen, wissen nicht einmal, dass ich existiere. Nur ich habe das Licht ihres Zuhauses im Blick.
Ich studiere Philosophie an einer Universität. Hier gibt man kleinen Worten – wahr, gut und schön – eine große Bedeutung. In meinem ersten Seminar warnt der Dozent, das Studium sei nicht berufsqualifizierend. Anders als Controlling, Jura oder Medizin bereite einen die Philosophie nicht auf einen bestimmten Beruf vor. Bei ihrem Wissen handle es sich um ein abstraktes, kein Handlungswissen, keine Anleitung. Was eine Abschreckung sein soll, präsentiert sich mir als Chance.
Zu Schulfreunden halte ich keinen Kontakt mehr. Meine Beziehung geht in die Brüche. Die meiste Zeit des Tages verbringe ich allein. Ich verliere jedes Interesse daran, etwas zu erklären, das sich nicht erklären lässt. Ich finde keine Worte für ein Gefühl, das bestimmt, wohin ich drifte. Mir selbst muss ich nicht beschreiben, wie ich mich fühle. Vor mir selbst muss ich mein Handeln nicht rechtfertigen.
In einem Ethikseminar referiert der Dozent über moralischen Relativismus. Er vollzieht eine Argumentation nach, die davon ausgeht, dass gut keine Eigenschaft von Dingen sein kann, weil sich die Gutheit eines Gegenstandes nicht mit den Sinnen wahrnehmen lässt. Eine philosophische Schule geht sogar so weit, dass sie behauptet, mit dem Wort gut sage die Sprechende nichts weiter aus, als dass sie eine Sache mag. Keine Moral, nur Wohlgefallen. Nur Gefühl. Ein Kommilitone meldet sich und fragt nach, wie das sein könne, dass gut keine allgemeine Bedeutung habe, und was man dagegen machen könne? Man müsse sich doch irgendwie darauf einigen, was gut in der Welt sei, sonst wäre alles beliebig.
Ich halte den Kommilitonen für einen Idioten. Nur ein weiterer notorischer Weltverbesserer, der seine Meinung schon festgelegt hat, bevor er überhaupt mit dem Denken anfängt. Einer, der nicht versteht, welche Chance in der Abstraktion liegt: Nämlich, dass sie nichts mit der Welt zu tun haben muss. Der Gedanke muss sich nicht vor der Realität verantworten. Wenn die Argumentation zu dem Schluss kommt, dass gut nichts weiter als eine leere Worthülle ist, mit der man seine Befindlichkeit bekleidet, dann ist das so. Es kümmert den Gedanken nicht, was die Welt von ihm hält. Er existiert unabhängig von ihr.
Wie die Gedanken so löse auch ich mich von der Welt um mich herum. Mein Körper ist vor allem eine Belastung. Nur eine materielle Notwendigkeit. Am freiesten fühle ich mich, wenn ich ihn nicht spüre, wenn die soft machine ihre Arbeit im Hintergrund erledigt und sich mit ihren Schmerzempfindungen nicht aufdrängt. Versagt die Maschine, versage ich. Mehr kann ich darüber nicht schreiben. Ich weiß nicht wie.
Vom Körper, vom Raum mit seinen Organismen und Ausdehnungen will ich nichts wissen. Ich bewege mich über Oberflächen, über Screens und Buchseiten. Zum zweiten Mal lerne ich lesen, diesmal gründlicher und systematischer. In Buchstaben und Bildern erkenne ich Zeichen, die zu mir sprechen. Ich höre zu, aktiv in der Passivität dieser Tätigkeit, und verstehe immer mehr. Höre immer mehr, sehe immer mehr. Alles, was zu mir spricht, spricht zu mir als Zeichen. Ich eigne mir die Welt als ästhetisches Objekt an. Die vorbeifahrende Straßenbahn, eine Stadtszene.
Der Sonnenuntergang über dem Feld, eine Naturaufnahme. Die Gesichter in der Bibliothek, Portraits. Alles, was ich sehe, sehe ich als Oberfläche. Wenn die Maschine funktioniert, lese ich den ganzen Tag lang. Die Oberflächen und Zeichen verstehe ich. Ich kann sie mir erklären, ohne ihnen je eine Antwort schuldig zu sein. Wie ich und meine Gedanken haben sie immer weniger mit der Welt zu tun. Mit der Sensibilität meiner Wahrnehmung, nimmt auch die Distanz zu.
Als 2014 Deutschland gegen Brasilien im Halbfinale der Herrenfußball-WM spielt, spaziere ich durch die leere Stadt und genieße die Ruhe. Der Sommer ist heiß und die Balkontüren stehen offen. Im Wohngebiet kann ich mitten auf der Straße laufen, weil keine Autos fahren. Ab und zu kommen Schreie aus den Balkontüren, gleichzeitig aus allen Richtungen. Ohne das Spiel gesehen zu haben, weiß ich wie es ausgegangen ist, als ich wieder in meiner Wohnung ankommen.
Als der Betrunkene in die Straßenbahn einsteigt und Stress mit einem Fahrgast anfängt, weiß ich es bereits. Er setzt sich auf einen Platz am Fenster, stellt die Bierflasche auf den Boden und den Rucksack daneben. Seine Körperhaltung verrät es, seine Mimik spricht Bände. Ich könnte einschreiten, könnte die Fahrgäste warnen. Ich lehne mich zurück. Der Betrunkene steht auf. Geht schnellen Schrittes durch das Abteil, seine Faust schon erhoben. Zweimal schlägt er dem Fahrgast ins Gesicht, bevor er eine Metallstange trifft und sich selbst die Hand bricht. Ich höre es knacken und denke, dass die Stadt hinter den roten Spritzern auf der Fensterscheibe ganz friedlich aussieht, wie sie so durch den Regen gleitet.
Als meine Oma stirbt, fahre ich zu meinen Eltern. Auf der Beerdigung trage ich einen schwarzen Anzug und schwitze. Nach der Trauerfeier treffen wir die Nachbarn meiner Eltern. Sie weinen und sprechen uns ihr Beileid aus. 18 Jahre lang lebte ich mit meiner Oma in einem Haus. Sie hat mich zusammen mit meinen Eltern großgezogen. In den Sommerferien ging sie fast jeden Tag mit meinen Brüdern und mir ins Freibad. Vor dem Einschlafen erzählte sie uns Geschichten. Jeden Freitag kochte sie Spätzle und Braten für uns. Ihr Tod lässt mich kalt. Ich fühle nichts.
Mit zunehmender Distanz wird die Aussicht schöner. Aus dem Weltraum betrachtet, ruhen die Meere auf der Erdkugel. Über zwei Drittel ihrer Oberfläche sind mit Wasser bedeckt. Wenn die Flut kommt, kann sie alles mitnehmen. Es spielt keine Rolle mehr. Es ist egal.