tiefe
© Alexander Schuchmann

Kannst du mir ein Gefühl beschreiben oder die Tiefe

Ich fingiere, ich erfinde, ich lüge. Ich habe mir alle Geschichten über mich ausgedacht. Selbstverständlich würde ich das nie zugeben, denn nur ein schlechter Lügner lässt sicher erwischen und nur ein noch schlechterer Lügner gibt dann auch noch zu, dass er erwischt worden ist. Außerdem sage ich stets die Wahrheit. Die Lüge denken sich die anderen aus.

    Was kann ich dafür, wenn man mich falsch versteht? Bin etwa ich der Geschichtenerzähler? Es sind doch die anderen, die ihre Geschichten über mich erspinnen. Wie könnte ich die Wahrnehmung, die andere von mir haben verändern? Wenn ich das könnte, wenn ich die Geschichten bestimmten könnte, die andere von mir schreiben, dann wäre ich – quite literally speaking – ein Gott, ein Genius malignus.

    Was wäre aber, wenn – rein hypothetisch gesprochen – ich gar nicht so viel tun müsste, um die Geschichten der anderen zu lenken? Was wäre, wenn ich das gar nicht vorhabe und auch nie vorhatte? Was wäre, wenn alles, was ich tun müsste, sich auf das Auslegen ein paar weniger Brotkrumen beschränkt? Dann würden ein paar wohlgestreute Informationen ausreichen. Sagen wir: gerade so viele, wie in einen Satz passen.

    Ich könnte mich zurücklehnen und auf die Kreativität der anderen vertrauen. Darauf, dass sie es schon allein hinbekommen, aus Zunder und Zündstein ein Feuer zu entfachen. Für den Fall der Fälle kann ich immer noch mit ein bisschen Benzin aushelfen. Würde es dann am Ende nicht stimmen, dass es über mich viel mehr Geschichten zu erzählen gibt, als irgendjemand kann? Wer könnte noch sagen, welche Geschichten wahr sind und welche nicht? Und wer könnte angeben, wer sie erfunden hat? Ich sicherlich nicht, aber mein Gedächtnis lässt, wie schon gesagt, zu wünschen übrig.

    Gehe wir einmal davon aus, dass ich mir das nicht alles ausgedacht habe. Dass ich tatsächlich irgendwie meine vielleicht göttlichen, vielleicht hilflosen Fingern im Spiel des Geschichtenerzählens habe. Dass also wirklich eine unüberschaubare Anzahl von Geschichten über mich umherschwimmt, von denen niemand – mich eingeschlossen – sagen kann, ob sie wahr sind oder nicht. Hat das nicht zur Konsequenz, dass es zunehmend schwerer wird, mich auf eine Version meiner selbst festzulegen, weil ich gleichzeitig wachse – es gibt jeden Tag eine neue Geschichte über mich, eine neue Version von mir – und schrumpfe – all die Geschichten stehen im Widerspruch zueinander, streiten um die Vorherrschaft und verlieren letztlich jede Bedeutung?

So hätte jede*r ihre eigene Geschichte von mir zu erzählen und gleichzeitig keine. Diese intersubjektiv erschaffene Sinnlosigkeit könnte viel mehr Wahres über mich aussagen als, nun ja, als alles andere. Mit ihr ließe sich der mir zur Verfügung stehende Handlungsraum ausloten. Die auf ihr basierenden Voraussagen über mein Verhalten träfen tatsächlich zu. Womit ich meine, dass sie den korrekten Schluss der Unzuverlässigkeit zögen, der zumindest unliebsame Überraschungen vorbeugte.

    Aber natürlich bin ich kein Gott. Ganz augenzwinkerfrei versprochen. Ohne Fingerkreuzen und Doppelkreuzen. Und natürlich lüge ich nicht. Das hier ist ein aufrichtiger Text. Ich versuche, so gut es geht, Antworten auf Fragen zu formulieren, die mir täglich gestellt werden, die ich mir täglich stelle. Es tut mir leid, wenn er enttäuscht. Wenn am Ende weniger klar ist als am Anfang.

    Von der Oberfläche aus betrachtet, verspricht die Tiefe ein Geheimnis. Sie lockt mit ihrem süßen Ruf, der nahelegt, dass am Grund etwas wartet. Eine Belohnung für all die Mühen, die man auf sich nehmen muss, um ganz unten anzukommen. Wer nicht aufpasst, lässt sich leicht verführen, immer tiefer hinabzutauchen, selbst nachdem die eigenen Kräfte schon weit überschritten sind.

    Ich kenne diese Gefühl nur zu gut. Trotz all seiner Grausamkeit lässt sich der Leviathan nur schwer erkennen. Wenn ich ihn endlich sehe, dann stelle ich oft im selben Atemzug fest, wie weit ich ihm schon in die Tiefe gefolgt bin. Wieder einmal hat mich der Irrglaube verführt, ich könnte dort unten etwas finden. Es ist so einfach, zu glauben, dass all der Schmerz zu etwas gut ist. Denn die Alternative ist bisweilen unerträglich grausam: Der Schmerz führt nirgendwohin. Ich hätte ihn genauso gut auch nicht fühlen können. Ich wäre immer noch ich, nur eben ein ganzes Stück glücklicher.

Es hilft alles nicht. Die Plattitüde stellt sich als wahr heraus: Ich kann nie zweimal in den gleichen Fluss springen. Das Wasser und die Zeit fließen gleichermaßen. Der Fluss verändert sich von einem Augenblick zum nächsten. Was aber viel interessant ist – denn wer interessiert sich schon für Fließgewässer? – ist die Tatsache, dass auch der Springende ein anderer ist.

    Die Welt verändert sich und ich mit ihr. Es gilt das Mantra des Süchtigen: Jeder Tag ist eine neue Herausforderung. Es hat etwas Verzweifeltes, ja sogar etwas Lächerliches, diesem chaotischem Strom mit Ordnung beikommen zu wollen. Als ließe sich die unaufhaltsame Ausdehnung des Universums mit ein wenig Nachdenken, ein bisschen Physik und Philosophie im Zaum halten.    

Jedes logische Konstrukt, jedes argumentative Gebäude, all die unlesbaren Wälzer zur Systematik der Flora und Fauna, die chemischen Formelsammlungen und die Gesetzesbände, Stern- und Landkarten, sogar der gottverdammte Börsenteil jeder Tageszeitung ist ein zum Scheitern verurteilter Versuch, Ordnung in die Welt zu bringen. Lächerlich in seiner Unbeholfenheit. Grausam in seiner Erfolglosigkeit. Kaum verfasst, schon überholt. So wie dieser Text, der sich einreiht in die Aufzählung. Mein Versuch, der genau jetzt völlig seine Gültigkeit verliert.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Alexander Schuchmann | Pfeil und Bogen