tiefe
© Alexander Schuchmann

Kannst du mir ein Gefühl beschreiben oder die Tiefe

Für mich stellt die Erfahrung des Vergessens selbst eine solche prägende Erfahrung dar. Das eben geschriebene bleibt wahr, nur bedauerlicherweise nicht immer. Es gibt Tage, Woche und manchmal Monate, in denen mir prägende Erfahrungen entfallen. Mit ihnen brechen – ob gewollt oder nicht – Teile meiner Selbst und der Welt, in der dieses Selbst lebt, weg.

    Es ist, als würde ich einen Raum betreten und sobald ich in ihm bin, vergesse ich, warum ich ihn betreten habe. Ich weiß noch, dass ich etwas tun wollte in diesem Raum. Ich weiß noch, dass ich einen Grund hatte, aus dem ich hierher kam. Nur welcher, daran erinnere ich mich nicht mehr. Meistens fällt mir der Grund nach Tagen, Wochen oder Monaten wieder ein. Ab und zu jedoch finde ich ihn nicht wieder. Der Grund bleibt verloren. Etwas Fundamentales, eine prägende Erfahrung, versinkt in jener chaotischen Tiefe, die selbst keine Dimensionen kennt.

    Der Kontakt mit dieser Sphäre wird selbst zur prägenden Erfahrung. Ich mag mich – zumindest eine Zeit lang – nicht erinnern können, was ich vergessen habe, aber dass ich vergessen habe, bleibt unauslöschbarer Bestandteil meiner Erinnerung.

Eine unvollständige Liste von Dingen, die ich vergaß:

– Wie man vertraut.

– Wie man sich vertraut.

– Wie man sich anvertraut.

– Wie man „Ich“ sagt.

– Wie ich Worte dazu bringe, meinen Mund zu verlassen.

– Wie ich Worte dazu bringe, eine Bedeutung anzunehmen.

– Wie es sich anfühlt, einen Menschen zu küssen, den ich liebe.

– Wie es mir gelingt, das Haus zu verlassen.

– Wie ich es schaffe einzuschlafen.

– Wie ich den Geschmack von Angst aus meinem Essen bekomme.

– Wie Aufwachen und Schmerzempfinden sich unterscheiden.

– Spaß.

Anders als in einem Computerspiel gibt es in der Realität keine Speicherpunkte, keine Anker in der Zeit, zu denen ich zurückkehren kann, wenn ich mal wieder die falsche Entscheidung getroffen habe. Ich muss lernen, mit den eigenen Erfahrungen zu leben. Auch und vor allem mit jenen, die ich lieber vergessen möchte. Ebenso wie mit den Lücken in meinem Gedächtnis und nicht zuletzt dem Wissen um diese Lücken.

Mit dem Wissen darum, dass alle Dimensionen der Zeit – prägende Erfahrungen, Handlungsoptionen und die daraus resultierenden möglichen Leben – verschwinden können. Von Jetzt auf Gleich, ohne Angabe von Gründen. Es dauert nur die Zeitspanne eines Fingerschnippens, um jeden beliebigen Aspekt meines Könnens und Wollens versinken zu lassen. Manchmal folgt das Versinken einer Logik, die ich vorhersehen oder rekonstruieren kann. Manchmal –

    Wie im Computerspiel lernt man auch in der Realität einen Umgang mit den Problemen, die sich einem in den Weg stellen. Das beginnt bei einfachen Spielmechaniken. Wie bewege ich mich, wie lerne ich Laufen? Über welche anderen Fähigkeiten verfüge ich und wie kann ich sie einsetzen? Nach dem Prinzip von Try and Error lernen Spieler*innen die Regeln der Welt, durch die sie sich bewegen. Sie finden es entweder selbst heraus oder das Spiel erklärt es ihnen in einem Tutorial. Dabei erfahren die Spieler*innen ebenfalls,  auf welche Art sie sich durch das Spiel bewegen sollen.

Ihnen wird nicht nur beigebracht, welche Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, sondern auch, wozu diese einzusetzen sind. In anderen Worten: Das Spiel erläutert, wie es gespielt werden möchte. Es legt einen Weg offen, den die Entwickler*innen als Standard vorgesehen haben. Die Spieler*innen wiederum können entscheiden, ob sie diesen Weg einschlagen möchten oder ob sie doch nicht lieber einen Umweg nehmen.

    Auf der Mikroebene stehen Spieler*innen bei jedem Problem, mit dem sie im Verlauf des Spiels konfrontiert werden, vor dieser Entscheidung. Sie können das Problem entweder auf die vorgesehene Art lösen oder nach einer Alternative suchen. Viele Computerspiele lassen mittlerweile verschiedene Lösungswege zu, andere hingegen erfordern ein wenig mehr Kreativität und Ausdauer bei der Suche nach Alternativen. Etwa können Fehler in der Programmierung des Spiels ausgenutzt werden, um an genau der richtigen Stelle durch eine Wand zu laufen oder das mitgeführte Geld ins Unendliche zu steigern.

    Die Makroebene stellt Spieler*innen vor die Entscheidung, wie sie das Spiel als Ganzes bestreiten möchten. Beispielsweise bietet sich ihnen die Möglichkeit, so lange wie möglich in einer Spielwelt zu verweilen. Ihr Ziel besteht dann darin, jeden Winkel der Welt zu erkunden und jedes Geheimnis zu lüften, das die Entwickler*innen in ihr versteckt haben. Andere Spieler*innen verschreiben sich dem gegenteiligen Ziel. Sie streben danach, ein Spiel so schnell wie möglich durchzuspielen. Diese Speedruns wiederum können selbst eigenen Regeln folgen. Während Purist*innen darauf bestehen, den vorgesehenen Wegen des Spiels zu folgen, nutzen andere jede Lücke im Code des Spiels aus, um die Spieldauer zu verkürzen.

    Es existiert noch eine weitere Möglichkeit, mit den Regeln des Spiels umzugehen. Wie jedes Programm basiert auch ein Computerspiel auf einem Code. In ihn sind die Regeln des Spiels buchstäblich und numerisch eingeschrieben. Erlangen Spieler*innen Zugriff auf diesen Code, können sie die Regeln des Spiels mehr oder weniger beliebig verändern. Somit lässt sich jedes Problem ganz einfach aus der Spielwelt entfernen. Spieler*innen müssen nicht mehr lernen, wie sie eine Figur springen und landen lassen, um über Abgründe zu gelangen. Sie deaktivieren einfach die Schwerkraft und die Tiefe verschwindet.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Alexander Schuchmann | Pfeil und Bogen