Teil 2 – Praxis
Naturzustand
Unter der Jacke ist mir warm. Nieselregen legt sich auf mein Gesicht, verschafft ein wenig Kühlung. Heute fällt mir das Gehen schwer. Auf der Straße liegen Blätter, durchlöchert und modrig. Ich spüre meinen Puls, höre das Pochen im Ohr. Von meiner Wohnung zur Haltestelle brauche ich zehn Minuten. Dort angekommen öffne ich den Reißverschluss. Die Herbstluft vertreibt die angestaute Hitze. Meine Kondition lässt zu wünschen übrig. Obwohl ich mich nicht beeilen musste, bin ich außer Atem. Die Zigarette stellt meinen Ruhepuls wieder her. Als die Tram kommt, trete ich die Halbgerauchte aus und steige ein.
Von hier bis zum Lesungsort sind es sieben Stationen. Eine Freundin lud mich ein. Im Sommer besuchte ich schon einmal eine Lesung dieser Reihe. Das Bier war warm und das Publikum stellte verkopfte Fragen. Ich mochte es dort. Außer mir befindet sich niemand im Waggon. Ich versuche, mich an den Sommer zu erinnern. Mir fallen ein paar Details ein: Alle Stühle waren wacklig. Jemand referenzierte Proust in einer Frage. Ein Autor sprach über die Verwertungsrechte seiner Bücher. Am Ende der Lesung waren aufgrund der Hitze alle etwas angetrunken.
Das Rattern der Bahn macht mich unruhig. Ich fühle mich hin und her geworfen auf meinem Sitz. Mein Rücken schmerzt vom Hartplastik. Obwohl noch fünf Stationen zu fahren sind, stehe ich auf. Meine Hand legt sich um den Knopf, der die Tram anhalten lässt. Ich versuche, wieder an das Publikum der Lesung zu denken, an die angetrunken lachenden und hitzeroten Gesichter. Sie stehen mit mir im leeren Waggon, schauen mich an. Ihre Blicke durchlöchern mich. Die Heizungsluft kriecht mir unter die Jacke und treibt mir den Schweiß aus den Poren. Ich drücke den Knopf und steige aus. Die Blicke verschwinden.
Auf meinem Weg nach Hause muss ich die Bahngleise überqueren. Oben auf der Metallbrücke bleibe ich stehen und stecke mir eine Zigarette an. Mittlerweile regnet es in Strömen. Ich lehne mich auf das Geländer. Unter mir fährt ein Zug. Ich verlasse mich für eine Weile und beobachte, wie ich nasser werde. Ich wünsche mir eine Off-Stimme, die diese Szene einordnet und ihr irgendeinen Sinn verleiht.
Ich verlasse den Film, in dem ich mich selbst spiele, und werde zum Zuschauer. Auf einmal ist es mir peinlich, an einem so pathetischen Machwerk beteiligt zu sein. Die ganze Szene suhlt sich in Selbstmitleid und am allerschlimmsten: Ich bin dafür verantwortlich. Was für eine unfassbar lachhafte Scheiße.
Ich weiß nicht mehr, ob es mir auffällt, als ich meine Zigarette auf die Gleise schnippe, dass ich weder Figur noch Zuschauer bin.
In dem von Zoë Quinn entwickelten Computerspiel Depression Quest lenkt man einen depressiven Protagonisten durch verschiedenen Alltagssituationen. Die Spielmechanik folgt der Idee einer Geschichte, die verschiedene Verläufe nimmt, je nachdem welche Entscheidungen die Spieler*innen treffen. Zunächst schildert ein kurzer Text die Situation, in der sich der Protagonist befindet. Darunter finden sich verschiedene Optionen, wie der Protagonist auf die Situation reagieren kann. Am Boden der Seite geben allgegenwärtige graue Boxen an, ob der Protagonist sich in therapeutischer Behandlung befindet und Antidepressiva nimmt. Außerdem liefern sie einen kurzen Überblick über die psychische Verfassung des Protagonisten.
Vor Beginn des Spiels informiert die Einleitung, dass Depression Quest nicht dem Zweck der Unterhaltung dient. Es wurde vor allem in aufklärerischer Absicht programmiert. In der Hoffnung, dass Spieler*innen die Erfahrungen einer an Depression erkrankten Person besser nachvollziehen können, wenn sie selbst einmal die im Spiel präsentierten Situationen aus der Sicht einer solchen Person durchleben. Indem Spieler*innen Entscheidungen für den Protagonisten treffen, müssen sie sich nicht nur grundsätzlich im Leben des Protagonisten zurecht finden, sondern auch überlegen, wie sie selbst in bestimmten Situationen handeln würden.
Hierfür zeigt das Spiel verschiedene Konfliktsituationen auf, in denen sich eine an Depression erkrankte Person wiederfinden kann. Ebenso unterliegt die Auswahl der daran anschließenden Optionen immer wieder Limitierungen, die durch die Erkrankung bedingt sind. Viele der Situationen drehen sich um das Sprechen über Depressionen. Oft fällt es dem Protagonisten schwer, sein Verhalten vor sich und anderen zu erklären. Das wird insbesondere dann zum Problem, wenn dieses Verhalten die Erwartungen anderer Menschen enttäuscht.
Zwar lebt der Protagonist nicht isoliert, sondern ist eingebunden in ein soziales Netz aus Arbeitskolleg*innen, Freund*innen, einer Partnerin und seiner Familie, aber gerade diese Eingebundenheit stellt ihn häufig vor Probleme. Sie geht nämlich einher mit Erwartungen an gemeinsame Unternehmungen, aufrichtige Gespräche und körperliche Zuneigung. Mit zunehmender Schwere der Krankheit misslingt es dem Protagonisten, diese Bedürfnisse zu befriedigen, was im Zusammenspiel mit der Schwierigkeit, über diese Probleme zu reden, einen der Grundkonflikte des Spieles beschreibt.
Das Problem des Etwas-nicht-tun-Könnens zeigt sich ebenfalls in der Auswahl von Optionen, aus denen Spieler*innen wählen können. Unter jeder Situation, in der sich der Protagonist befindet, werden alle Möglichkeiten gelistet, wie sich er verhalten könnte. Manche davon sind allerdings durchgestrichen und können entsprechend nicht ausgewählt werden. In einigen Fällen ist ersichtlich, warum der Protagonist die durchgestrichenen Handlungen nicht ausführen kann.
Die Entscheidungen, die im Verlauf des Spiels getroffen wurden, beeinflussen die Situationen, in denen sich der Protagonist befindet, und die Möglichkeiten, die ihm in diesen Situationen zur Verfügung stehen. Bei anderen Fällen wiederum lässt sich dieser Rückschluss nicht ziehen. Weder der Protagonist noch die Spieler*innen können sich erklären, warum eine Handlungsoption nicht auswählbar ist.
Es ist leicht ersichtlich, weshalb Frustration eine der am häufigsten berichteten Spielerfahrungen darstellt. Verstärkt wird dieses Gefühl durch die bereits erwähnten grauen Boxen unterhalb der (Nicht)auswahlmöglichkeiten. Sie erinnern Spieler*innen daran, in welcher psychischen Verfassung der Protagonist sich befindet und ob er therapeutische Hilfe annimmt. Je nachdem, wie sie sich im Laufe des Spiels verändern, dokumentieren sie entweder eine Verbesserung oder Verschlechterung.
Gerade jene Optionen, die wahrscheinlich zu einer Verbesserung führen, stehen Spieler*innen jedoch oft nicht zur Verfügung, obwohl sie ihnen angezeigt werden – allerdings in durchgestrichener Form. Sie befinden sich in Sichtweite, aber nicht in Reichweite. Die bestmögliche Option ist nicht bloß vorhanden, sondern offen-sichtlich. Sie kann nur nicht ausgewählt werden.
Einer der vielen wenig hilfreichen Ratschläge, die ich im Laufe meiner Karriere als psychisch kranker Patient erhalte, lautet: Nicht vergleichen! Wer sich mit anderen – vor allem mit psychisch gesunden Menschen – vergleicht, fördert primär das eigenen Unglück. Denn indem ich mich vergleiche, messe ich mich an den anderen und setzte mir so einen unrealistischen Maßstab zur eigenen Beurteilung. Erfolg oder Misserfolg sollte allein am eigenen Fortschritt gemessen werden, ich allein sollte mein eigener Maßstab sein.
Ich halte diesen Ratschlag nicht für per se schlecht. Nur seine Anwendung ist – zumindest in meinem Fall – deplatziert.
Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eine Gerade. Jede andere Verbindung nimmt eine länger Strecke in Anspruch und muss folglich als Umweg bezeichnet werden. Um ein Ziel zu erreichen, gibt es geeignete Mittel und solche, die weniger geeignet sind: Wege und Umwege.
Wer nichts mehr zu essen im Haus hat, der schnappt sich Schlüssel und Geldbeutel, geht zum nächsten Supermarkt und kauft sich dort etwas. Das ist der Weg, die Gerade, die kürzeste Verbindung zwischen Hunger und Nahrungsaufnahme. Doch nicht alle können diesen Weg beschreiten. Sei es der Mangel an Geld, das Nicht-Vorhandensein eines nahen Supermarktes oder – wie in meinem Fall – die Unfähigkeit, das Haus zu verlassen, die Steine auf diesem Weg können ganz verschieden aussehen. Sie alle eint, dass ihr Vorhandensein zu Umwegen zwingt.
Sicher könnte ich auf den Vergleich mit der kürzesten Verbindung verzichten. Ich könnte sogar so tun, als gäbe es die Option der Geraden nicht. Aber ich weiß, dass sie da ist. Denn in den meisten Fällen, kann ich die Gerade nicht nur identifizieren, sondern sie auch beschreiten. Außer an den Tagen des Leviathans.
Auf den Vergleich zu verzichten, heißt auch, die Gerade nicht mitzudenken. Es heißt, das Offensichtliche auszublenden. Und das wiederum bedeutet, die erste und grundlegendste Beobachtung im Laufe eines Entscheidungsprozesses zu negieren. Die Gerade lässt sich nicht leugnen. Sie existiert und ich habe sie gesehen. Selbst wenn ich sie nicht nutzen kann, verschwindet sie deshalb nicht einfach.
Ich bestreite jeden Umweg in dem vollen Bewusstsein, dass ich mich gerade nicht auf der Geraden befinde. Das nicht zu tun, ist kein Zeugnis emotionaler Intelligenz, es handelt sich nicht um das Befolgen der unter anderen Umständen klugen Maxime des Nicht-Vergleichens. Ganz im Gegenteil: Es wäre dumm, wenn nicht sogar idiotisch. Und selbst, wenn ich mir diese Idiotie zugestände, die große Mehrheit meiner Mitmenschen tut es nicht.