trost leid

Ich habe dir nie von meinem Leid erzählt

Die Frau weint, als ich ihre Frage beantworte. Die Linien um ihre Augen sind fein und verlaufen sich auf ihren feuchten Wangen. Um ihren dünnen Arm hängt eine Handtasche, die durch ihr Zittern leicht schwankt. Das tut mir so leid, sagt sie. Sie ist erschüttert.

Wir stehen an der Schlange der Kasse eines Sanitätshauses in Braunschweig. Es ist Sommer, ich habe gerade ein Eis gegessen und schmecke es noch auf meiner Zunge. Walnuss. Ich bin hier, weil ich die Aufsätze meiner Krücken wieder mal austauschen muss, die Metallstangen haben sich bereits durch das Gummi gebohrt und klacken mit jedem Schritt auf dem Asphalt.

Die Frau weint. Ich kenne sie nicht, aber ich vermisse ihr runzliges Lächeln, mit dem sie mich noch vor einer Minute angesehen hat. Wir haben uns über Hilfsmittel und Schmerzen unterhalten, ein beliebtes Thema zwischen alten Leuten und mir, als sie mir die Frage stellte, die Menschen immer stellen, und ich möglichst lässig antwortete: Ach, das … Das ist immer so, geht nicht mehr weg.

Jetzt sehe ich in ihren Tränen, dass sie mich zuvor bereits gedanklich diagnostiziert hatte. Sie hatte an einen Sportunfall geglaubt, an ein gebrochenes Bein und daran, dass mein Körper in zwei Wochen wieder in die allgemeingültige, normative Vorstellung eines jungen Körpers passen würde. Weil ich ihr diese Vorstellung genommen habe, muss sie jetzt Mitleid empfinden und ich auf ihr Mitleid reagieren. Ich sage: Oh … Und: Ist schon okay, ist nicht so schlimm.

Die Welt ist unfair, das lese ich ganz deutlich in ihrem Gesicht ab. Ich möchte nicht, dass sie meinetwegen weint und verbringe die nächsten Minuten damit, sie für etwas zu trösten, das mir passiert ist. Aus dem Augenwinkel untersuche ich ihren Schmuck, ihre schwankende Handtasche, und versuche einzuschätzen, wie vermögend sie ist, und ob sie mir aus Mitleid mein Studium finanzieren würde.

Ich stelle mir vor, dass sie mir, ergriffen von meinem Schicksal, ihre Ersparnisse überlässt und mich als ihre Erbin einsetzt, damit ich neben den Qualen, die mein Körper mit sich bringt, wenigstens finanziell abgesichert bin.

Nachdem wir abkassiert wurden, zieht sie mich in eine halbe Umarmung, die ich nicht erwidern kann, weil ich keine Hand freihabe, und wünscht mir alles Glück der Welt. Als ich weitergehe und mich nochmal umdrehe, steht sie noch immer vor dem Laden und sieht mir traurig hinterher. Ihr Mitleid so greifbar, dass ich mir trotzdem nichts davon kaufen kann.

Seit einiger Zeit notiere ich mir die Sätze, die Menschen auf der Straße zu mir sagen. Auf Platz 3, direkt hinter Was ist dir denn passiert? und Gute Besserung!, stehen die Worte: Du Arme.

Du.

Arme.

Manchmal alleinstehend, manchmal in einen Satz verwoben oder mit einer Einleitung, wie Oh Gott und Oh nein, vermittelt dieser Ausdruck die Botschaft: Du bist arm dran, das ist mir sofort aufgefallen. Du verdienst mein Mitleid.

Es ist der Satz, mit dem mich fremde Menschen im Bus ansprechen, wenn ich mich neben sie setze. Es sind die Worte, die man zu mir sagt, wenn ich an eine fremde Wohnungstür klingele, in der eine Hausparty stattfindet, und viel lieber einen Kommentar zu meinem Outfit bekommen hätte.

Mitleid ist die Anteilnahme am Leid eines anderen. Doch ich habe ihnen nie von meinem Leid erzählt. Ich bin nur in einen Bus gestiegen, um zur Uni zu fahren. Ich bin nur einkaufen gegangen, weil ich Lust auf Chips hatte. Ich stehe hier nur und warte auf eine Freundin. Was ist es, für das sie mich bemitleiden?

Mein Leid ist eine Schlussfolgerung, die Menschen treffen, wenn sie mich sehen. Es ist etwas an meinem Äußeren, das sie dazu veranlasst anzunehmen, mein Leben sei furchtbar. Sie bürden mir ihre Empathie auf, schwer bleibt sie an mir haften, definiert mich. Ihre Stimmen werden sanft und verständnisvoll, wenn sie sagen: Ich verstehe dich, ich bin auch mal auf Krücken gelaufen. Acht Wochen lang, das war schlimm.

Weil ich gelernt habe, auf Sorge immer beschwichtigend zu reagieren, liegt es an mir, die Menschen davon zu überzeugen, dass es mir gut geht. Ich höre mich Dinge zu ihnen sagen, wie: Ach, das ist nicht so schlimm, und Ich hab mich dran gewöhnt, bloß, damit es ihnen besser geht. Manchmal argumentieren sie: Doch, das ist schon schlimm, weil ihre verankerte Vorstellung von einem Menschen wie mir mehr Gewicht hat, als meine eigenen Worte.   

Mitleid ist keine Solidarität. Mitleid ist das Gegenteil von Solidarität. Mitleid ist die Herabsetzung meiner Person auf etwas, das nur in ihren Köpfen existiert. Eine Herabsetzung, die sie sich beim Schauen von Reportagen über behinderte Menschen auf RTL antrainiert haben, während sie auf ihren Sofas saßen und dachten: Ein Glück, dass ich nicht so leben muss. Ich könnte das nie.

Wenn ich am gesellschaftlichen Leben teilnehme, halten Menschen mich für ausgesprochen tapfer. Sie sprechen ihre Bewunderung aus, wenn ich mich auf Stehkonzerten in die erste Reihe drängele. Sie finden mich mutig, wenn ich kurze Hosen trage, und inspirierend, wenn ich auf einer Party tanze. Meine Leichtigkeit verwirrt sie. Mein Lachen verunsichert sie.

Manchmal lüge ich, wenn sie mir die Frage stellen. Ich sage: Skiunfall, witzige Story. Ja, in zwei Wochen bin ich wieder fit. Ich lüge, damit sie es bequemer haben, erleichtert lachen, und mir ihre gottverdammte Empathie nicht aufbürden. Es ist, als wäre ich es, die ihnen mit der Wahrheit Leid zufügt.

So auch mit der Frau im Sanitätshaus. Sie ist es, die weint, ich bin es, die tröstet. Wie ist man einem Menschen böse, dem das eigene Wohl so sehr am Herzen liegt, dass es ihn zu Tränen rührt? Doch von meinem Wohl weiß die Frau nichts. Ihre Tränen sind nur das Resultats eines Stigmas, das mir mein Leben lang anhaftet. Ein Mensch kann nicht mitleiden, wenn er von dem Leid nichts versteht.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Markus Spiske