Zäune
Foto von Serena Koi von Pexels

Hinter den Zäunen

Georg sagt: „Schau, die Nessel, sie brennt gar nicht.“ Dabei umfasst er das Blatt, reißt es aus, zwirbelt es zwischen den Fingern, lässt den Daumen über die Innen- und Außenseite fahren, er spricht: „Sie hat das Beißen verlernt.“ Das Blatt, zwischen seinen Händen verdreht, rissig entlang der Kerben geworden, und „warum sollten die Nesseln auch beißen?“, meint er, schließlich müssen sie sich hier gegen nichts wehren, und wann ich denn meine letzte Schnecke gesehen habe, das Nesselblatt wird dünner und schmäler, während er es zerreibt, kleine grüne Flocken rieseln zu Boden, er lacht und fragt ob ich denn auch ob ich es gern probieren würde, er reicht mir das Blatt, es ist matt und trocken, ganz anders als der Boden des Sumpfes, es reißt unter den Fingern, warum ich mich denn so anstellen würde, da sei doch gar nichts dabei, die Blätter zerfielen hier eben, lacht er, und ich greife in die nächststehende Nessel, weil er recht hat, übermütig wie er ist, und greife und brenne und fühle tausend Stiche auf meiner Handinnenfläche, und weiß, dass er Recht hat, da ist doch gar nichts dabei, weil die Nessel, sie ist …


Wenn er in diesen Tagen träumte, spazierte er über Teppiche aus Karten. Gradienten verwiesen auf die Wölbung von Falten, Pfeile hingegen führten hinter den Stoff. Wenn er zwei Fäden wie einen Vorhang beiseiteschob, blieb, ohne sich umzudrehen, das Bewusstsein, ein Gitter versperre ihn den Weg zurück. Und vor ihm liege nur ein neuer Teppich.


Manchmal laufen die Bäche hier rosa an. Dann scherze ich mit Ursula oder Gerta oder Brigitte über die Touristen, die kommen werden mit ihren Fotoapparaten, schnellen trippelnden Schritten und grellen Stimmen; sie werden über der Brücke stehen, ihre Hälse aneinander vorbeirecken, um dieses einmalige Naturschauspiel zu beobachten, vielleicht auch einen Schnappschuss zur Erinnerung ergattern, gerade wenn die Spülung hereinbricht und der Schaum sich an den Steinen staut, werden sie atemlos vor unserer kleinen Ilbe stehen, jeder einzelne versessen, sich den besten Blickwinkel zu erkämpfen; sie werden kommen und voller farbenfroher Eindrücke den Ort wieder verlassen; sie werden kommen und noch ihren Kindern erzählen, wie sich die Bäche in C. rosa verfärbten; sie werden kommen und vor Staunen keinen Laut mehr hervorbekommen; sie werden kommen und schweigen. Während Ursula oder Gerta oder Brigitte und ich uns das vorstellen, lächeln wir ins Wasser, als könnte es unsere schiefen Mundwinkel vergelten.


So konnte es nicht weitergehen. Lukas würde den Schatten suchen und finden, ihn verfolgen, und wenn er sich im hintersten Winkel der Plattenbauten versteckte, kein Mittel wäre ihm zu brutal oder zu schwierig, nur musste das endlich aufhören, kaum traute er sich auf die Straße, war doch jede Straßenlaterne eine neue Gelegenheit: Ein Abgrund im Raster, der weiter und weiter wachsen würde, bis eines Tages die Tabelle vor lauter Lücken auseinanderfiele, noch hatte er Zeit, schließlich würde der Schatten, so wirkte es immerhin bis zu diesem Zeitpunkt, von den Verknüpfungspunkten Abstand halten. Aber gerade diese Vorsicht, der umständliche Tanz um die Hauptstraße, das Werk und das Einkaufszentrum, mit Schleichwegen, geschwungenen Kurven und verschämter Distanz, bereitete Lukas Sorgen, denn wie konnte er voraussehen, wann oder ob die Unordnung ihre Meinung ändern würde, ob sie nicht von einer Nacht auf die andere einfiele, um alles, was er so penibel und kalkuliert seit Monaten vorbereitet hatte, mit einem Schlag zu vernichten.

Er brauchte eine Live-Cam.


Bild mit freundlicher Genehmigung von Serena Koi