Zäune
Foto von Serena Koi von Pexels

Hinter den Zäunen

Die Straßen schimmerten wie die Lötungen eines Mikrochips. Zuerst hatte Lukas nur untertags Aufnahmen getätigt: die Verläufe von Grundstücken, die Winkel der Zufahrten, Waldgrenzen und Rasenflächen; C. zerfiel zu einer Ansammlung von Strukturen, die, wie ein Ameisenhaufen, einem System untergeordnet erschien. Er hatte Skizzen angefertigt, die versuchten, bestimmte Elemente auszugliedern, um den gröberen Mechanismen zu folgen: Entlang der Hauptstraße, an die sich Gemeindeamt, Supermarkt, Dönerbude und Eissalon schmiegten, zerfaserten die Stränge in feine und feinere Wurzeln, die, mit zunehmender Entfernung vom Zentrum, zwischen Landschaft und Reihenhäusern versickerten. In Nahaufnahmen erschlossen sich plötzliche Umbrüche von befestigten Straßen hin zu Trampelpfaden vom Gräulichen ins Braune hinein: Intensität und Festigkeit im Maß einer Farbskala. Um diese Umbrüche in seine Skizzen zu übersetzen, benutzte er Stifte unterschiedlichen Volumens: Hauptachse = Permanentmarker, zentrale Abzweigungen = Liner, periphere Straßen = Kugelschreiber, Gehpfade = Bleistift.

Immer wieder begann er von neuem, denn sobald er eine Skizze zu seiner Zufriedenheit fertiggestellt hatte, fing die Misere mit der Genauigkeit von neuem an. Er fühlte, dass seine Hand die Stifte nur zitternd führte, ein schmaler dunkler Knoten um die Tinte des Markers an einer Stelle verlief, von der er wusste, dass nur eine geometrische, logische Leere sie füllen könnte, und dass, solange dieser Klecks im Unweg war, auch der Zusammenhang sich ihm um einen schmalen Grad entwinden würde. Er ahnte bereits. Er war so kurz vor der Lösung.

Dann begann er, nachts zu filmen. Vielleicht aus Frustration, vielleicht aus einer wachsenden Langweile gegenüber immer gleichen Versuchsreihen und noch monotoneren Ergebnissen, hatte Lukas, nach mehreren Flaschen Bier, einigen zerfledderten Zeichnungen, die Drohne zunächst innerhalb eines geringen Radius von einigen Häuserblöcken bis in die Abendstunden geflogen.

Alles verschwamm. Und strahlte. Leuchtende Trapeze streckten sich aus den Fenstern heraus, Halbschatten bogen sich um die Häuser, Zylinder erstarrten um die Laternen, kurz: hatte Lukas zuerst die Verläufe seiner tapsigen Skizzen als Mängel der Darstellung wahrgenommen, begann er nun, sie in natura wiederzufinden.


Ich liebe die Ursulas, die Gertas und die Brigitten dieses Orts. Sie wissen noch nicht, was sie von mir zu halten haben, noch misstrauen sie mir, denn ihre Grüße sind kurz und abgebrochen, kaum ein Nicken, und ihr Lächeln streift an mir vorüber.

Wie anders verhalten sie sich untereinander: Steht eine Gerta vor der Supermarktkasse und plaudert mit einer Ursula, werden ihre Gesten langsam und ruhig, obwohl eine gewisse Verschmitztheit in ihren Zügen deutlich ist. Ein Wissen. Sie lassen sich Zeit, wenn sie ihre Börsen hervorkramen und mit zittrigen Fingern die Münzen aus den ledernen Umschlägen herausstochern. Dabei herrscht ein ständiges gemeinsames Jaja, du weißt, wie es ist, und ein Man muss das Beste draus machen, Wendungen, die stetig wiederholt und variiert werden und immer auf etwas verweisen. Etwas, das innerhalb liegt. Zwischen diesen Frauen, in ihren Einkaufstaschen, auf ihren Wegen, hinter den Zäunen. Mit jeder langgezogenen Silbe spannen sie ihren Alltag zu einem Stickmuster auf.

Manchmal erzähle ich Georg von diesen Begegnungen und dem Kribbeln, das diese eigene Sprache in mir hinterlässt und er meint, zuhause, mit verständigem Lächeln, zuhause sei, wenn es kribbelt, und man nicht ganz verstehe, warum, und dann wird es schwer zu erklären, dass ich es ganz genau verstehe.


Besonders faszinierten Lukas die Neubauten. Von erodiertem Grund umgeben und von Baggern belagert, bildeten die halb- und unfertigen Häuserflächen, die äußersten Erweiterungen C’s. Kein Rasen, keine Zäune, weder Kinderrutschen noch Swimmingpools, sondern Aufschüttungen und Schlaglöcher bestimmten diese Gebiete. In der Nacht aber brannten die Lichter in diesen Häusergruppen länger: Wo untertags die Wüste Einzug hielt, entfaltete sich zu später Stunde eine Oase in der Dunkelheit.


Bild mit freundlicher Genehmigung von Serena Koi