Halbböse Wörter

(Auszug)

„Warten Sie ganz kurz, bitte? Ja?“, sagte ich und hastete zurück zu meinem Platz. Weil ich unbedingt alles dokumentieren musste, holte ich mein Tagebuch aus dem Rucksack.

„So“, sagte ich. Das klang irgendwie komisch, weil der Zug gerade ratternd durch einen Tunnel fuhr und mir von der Geschwindigkeit die Ohren drückten. Deswegen hörte ich mich selbst total dumpf in meinem Kopf. Ich hielt mir mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu, schluckte dreimal und erst dann konnte ich weitersprechen. „Darf ich jetzt bitte einen Steckbrief von Ihnen machen?“ Die Person guckte verdutzt, überlegte, fuhr sich verlegen durch den Bart. „Nur um auszuschließen, dass Sie verdächtigt werden können, natürlich“, fügte ich hinzu. Ich glaube, ich machte sie nervös. Sie lachte. Dann nickte sie. Ich schlug mein Tagebuch auf, schrieb untereinander: Name, Alter, Einstieg und Ziel, Grund der Fahrt. Dann setzte ich überall ein Doppelpunkt dahinter. Die Person las mit. „Ben Müller“, sagte sie und ich notierte die Information. „Achtundzwanzig. Hannover. Kassel. Ich fahre meine Freundin besuchen.“ Schnell schrieb ich mit. Dann blickte ich in ihr Gesicht, versuchte mich auf die wesentlichen Merkmale zu konzentrieren. „Darf ich Sie zeichnen?“, fragte ich und sie nuschelte „Meinetwegen“, drehte ihr Gesicht mir zu und ich fertigte eine schnelle Skizze an. Das sah dann so aus:

„In Ordnung“, erklärte ich, als ich fertig war. „Ich werde mich bei Ihnen melden, sobald die Auswertung der Ergebnisse abgeschlossen ist.“ Während ich vom Sitz hopste und mich mit einer Hand an der Lehne festhielt (der Zug ratterte gerade um eine Kurve), hatte sie schon wieder die Kopfhörer aufgesetzt und sah aus dem Fenster.

 

Die nächste Person auf meiner Liste saß direkt dahinter, die Augen halb geöffnet starrte sie auf das Bordmagazin. Ihre Pupillen bewegten sich allerdings nicht. Ich hielt dies für höchst verdächtig. „Entschuldigen Sie“, sagte ich, sie sah mich an, ich deutete auf den Sitz neben ihr. Sie war ganz alt. Spuren ihres orangenen Lippenstiftes hatten sich in den vielen Falten um ihren Mund herum gesammelt, am Hals hatte sie dunkle Flecken, wie manche alten Leute das haben. „Darf ich mich kurz setzen?“ Sie hob die Handtasche von dem Sitz in ihren Schoß, ich bemerkte, dass die Tasche zu klein war, um einen Laptop darin zu verstauen. „Ich ermittle im Fall des verschwundenen Laptops“, sagte ich. „Momentan können wir davon ausgehen, dass besagter Laptop gestohlen wurde“, fügte ich hinzu, um die Dringlichkeit der Angelegenheit zu betonen. „Sollte ein kleines Mädchen, wie du, alleine im Zug herumlaufen?“ fragte sie, als ich mich setzte. Ich ignorierte die Frage, weil ich immerhin schon zwölf Jahre alt war. Und, weil sie mich mit einem ganzbösen Wort angesprochen hatte und ich hatte keine Lust ihr zu erklären, was halbböse und was ganzböse Wörter waren. Die Liste mit bösen Wörtern war mehrere Seiten lang und ständig änderten sich vereinzelte Begriffe, wurden von halbböse zu ganzböse oder so und bisher war Mama die einzige, der ich eine Kopie gegeben hatte. „Wenn Sie es erlauben, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, damit der Laptop schnellstmöglich wiedergefunden werden kann. Wo Sie eingestiegen sind, warum Sie heute mit diesem Zug fahren, ob Sie in der letzten halben Stunde aufgestanden sind, um aufs Klo zu gehen oder so. Oder vielleicht auch, ob Sie etwas gesehen haben, was weiterhelfen kann. Solche Sachen“, sagte ich. Erneut suchte ich in meinem Tagebuch nach einer freien Seite und legte meine losen Listen neben mich auf den Sitz, damit sie beim Blättern nicht herausfielen.

Wieder schrieb ich: Name, Alter, Einstieg und Ziel, Grund der Fahrt, und setzte überall einen Doppelpunkt dahinter.
„Hey!“, rief ich erschrocken, weil ich sah, dass sie meine Listen in der Hand hielt. „Das dürfen Sie nicht, das ist privat!“

Ich sah, dass ihre wässrigen, kleinen Augen über Liste # 3 huschten und ich fand das sehr unverschämt.

 

Menschen, die ich mag. Lose Liste # 3

1. Mama.

Mit Mama neue Flechtfrisuren ausprobieren. Das kleine Ziepen, wenn Mama aus Versehen ein bisschen zu fest an einer winzigen Haarsträhne im Nacken zieht.Mit Mamas Schminke wilde Experimente machen. Mit Mama bäuchlings auf dem Teppich liegen, Modezeitschriften durchstöbern und Collagen mit krassen Outfits basteln. Mit Mama Yoga machen und dabei immer wieder auf ihre weißen, weichen Füße mit dem roten Nagellack sehen. Mit Mama Kakao trinken und über ganzböse und halbböse Wörter diskutieren. Wir waren uns bei “Fräulein” nicht sicher, aber weil es mir so schrecklich unangenehm war, dass die Person in der Metzgerei mich so genannt hatte, haben wir es sicherheitshalber zu ganzböse geordnet.

 

2. Papa
Mit Papa zu Fußballspielen gehen. Heimlich Papas Armbanduhr ausziehen, während er auf dem Sofa schläft. Das Spannende dabei: Wenn er aufschrickt, bevor ich fertig bin, hab ich verloren. Wie Papa Mama sein “Blümchen” nennt, weil ich das irgendwie süß finde. Mit ihm Formel 1 im Fernsehen gucken und dabei Erdnussflips essen.

Warum ich Papa nicht mehr mag: Papa ist Meister im ganzböse Sachen sagen. Papa will, dass ich kurze Haare habe, dass ich nie wieder Kleider trage, dass ich keine Sachen mehr aus Modezeitschriften ausschneide, die mir gefallen. Papa sagt, wenn ich SO sein will, dann darf ich kein Fußball mehr gucken, weil das so ist, wie mit Puzzleteilen, die nicht ineinanderpassen. Papa will, dass ich entweder ein Mädchen oder ein Junge bin. Weil man eben nicht beides sein kann, sagt Papa, das geht nicht, man muss sich entscheiden.

 

„Entschuldigen Sie, aber das reicht jetzt wirklich“, sagte ich bestimmt und die sehr alte Person erschrak. „Oh, tut mir leid“, sagte sie und gab mir mit einem matten Lächeln die Liste zurück. „Ich war einfach zu neugierig.“ Ich strich mir verlegen die Haare hinter die Ohren. Dass fremde Menschen meine Geheimnisse lasen, machte mir Angst. Ich überlegte, ob ich zur nächsten Person gehen sollte, ob ich bei der Befragung ausnahmsweise eine Lücke lassen sollte, um vielleicht später nochmal wieder zu kommen.

„Wir machen es so. Ich beantworte dir eine Frage und dann darf ich eine von deinen Listen lesen“, sagte sie.

„Warum?“, fragte ich. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin alt“, sagte sie. „Mir ist langweilig. Ich höre nur noch selten Geschichten von fremden Menschen und ich glaube, du hast ein paar sehr spannende Geschichten zu erzählen.“ Ich verzog das Gesicht. „Nein. Nicht sonderlich spannende“, sagte ich. Ich fühlte mich unwohl, weil ich ja eigentlich sie befragen wollte und nicht andersherum. Doch mir blieb keine andere Wahl. Um den Fall zu lösen, musste ich noch acht Passagiere in meinem Abteil befragen. Es könnte außerdem durchaus sein, dass die Person, die den Laptop geklaut hatte, aus einem völlig anderen Abteil stammte und ihn beim Vorbeigehen mitgenommen hatte. Es könnte sein, dass sie sich nun nicht mehr zurück traute, sich auf dem Klo einschloss, oder bis zum Ende ihrer Fahrt im Bistro blieb. Es gab also noch viel zu viel Arbeit für mich und ich hatte absolut keine Zeit, um mit der sehr alten Person zu streiten. Also streckte ich ihr meine Hand entgegen. „Deal.“

Sie sagte mir ihren Namen. Ich gab ihr eine Liste.

 

Böse Wörter. Lose Liste # 5

 

1. Wörter, die sie in der Schule zu mir sagen

Mädchen: ganzböse (Als Anrede. Zum Beispiel: „Hey, Mädchen“ oder „Pass doch auf, Mädchen“

Junge: ganzböse (Als Vergleich. Zum Beispiel: „Benimm dich doch mal mehr, wie ein Junge!“ (Das hat Papa gesagt!))

Prinzessin: halbböse

Tunte: ganzböse
Pimmelmädchen: ganzböse

Transenschwuchtel: ganzböse

 

Bilder mit freundlicher Genehmigung von © Jelena Kern und © Selina Hillebrand