Feride spricht langsam und betont. Je nachdem, wovon sie spricht, wechselt sie von der Ich- in die distanziertere Du- oder Man-Perspektive. Während sie mir das Gefühl gibt, frei zu erzählen, merke ich doch, wie sie sorgfältig abwägt, was sie ausspricht. Schon vor Beginn des Interviews erzählt sie mir, dass sie offen mit mir reden wolle, aber dass ich manche Dinge nur zum besseren Verständnis erfahren und nicht aufschreiben könne. Außerdem müsse sie den Artikel zuvor Korrektur lesen. Obwohl sie häufig mit Vorurteilen und Widerständen konfrontiert ist, ist sich Feride sicher: Gott ist bei ihr und er hat einen Plan.
„Gott gibt selbstlos, er braucht nichts als Gegenleistung. Im Gegensatz dazu sind wir abhängig von ihm und könnten ohne seinen Willen nichts bewirken. Daraus schlussfolgere ich, dass die Pflichten und Regeln etwas sind, das dem Menschen zugutekommt. Das ist etwas, das mein Herz erwärmt. Es ist ein ständiges immer wieder aufs Neue versuchen, konsequent zu bleiben. Quasi die Absicht zeigen, dass man verstanden hat, nachvollziehen kann und es aus einem eigenen Antrieb heraus tun möchte. Wir haben nur ein eingeschränktes Sichtfeld, den Moment. Aber wenn wir von unserem Schöpfer sprechen, dann hat er alles im Überblick und plant alles. Das sind so Momente, in denen ich mir denke: du bist aufgehoben. Jeder hat seinen Weg, wie er das Leben meistert. Davor habe ich sehr viel Respekt. Persönlich habe ich gemerkt, dass es für mich keine Alternative zum Glauben und dem Schöpfungsgedanken gibt.“
Zum Abschied besteht Feride darauf, mir meinen Tee zu zahlen und umarmt mich fest, als wären wir alte Freundinnen.
Feride und ich sind in Kontakt geblieben. Im Dezember 2017 greife ich das bereits 2016 gesammelte Material für einen Artikel, der im Kontext des Seminars Politisches Schreiben an der Stiftungsuniversität Hildesheim entstehen soll, wieder auf.
Feride erzählt mir über WhatsApp, dass die Arbeit in der Sehitlik-Moschee für sie und ihr Team seit einem Jahr beendet sei. Der Religionsattaché kam vorbei. Der alte Vorstand, unter Ender Çetin, der sich um Öffnung und Integration bemüht hatte, wurde ersetzt. Neue Vorschriften wurden eingeführt. Da Feride und ihrem Team ein Großteil der Jugendarbeit nicht mehr gestattet wurde zogen sie sich gesammelt aus der Sehitlik-Moschee zurück. Feride ist es wichtig, dass dieser Wechsel nicht am Subjekt des neuen Vorstandes verhandelt wird.
„Ich finde es schöner, wenn man das nicht nur am neuen Vorstand ausmacht, sondern allgemein die problematische Struktur der Dachverbände hinterfragt und darauf aufmerksam macht“, sagt sie. „Wir mussten zwar mit unserer Arbeit aus der Sehitlik-Moschee gehen, beziehungsweise haben uns bewusst dafür entschieden, weil wir das, was dort politisch passierte, so nicht mehr vertreten wollten. Aber die Arbeit, die wir dort begonnen haben, wollten wir unbedingt weiterführen.“
Inzwischen haben Feride und ihr Team einen eigenen Verein gegründet. Unter dem Namen Deutsche Islam Akademie ist er gerade im Entstehen. Die Akademie soll unabhängig von einem Land oder politischen Institutionen funktionieren und jungen Muslim*innen eine Plattform geben ihren Islam offen und individuell zu leben.
Unabhängig von ihrem Ehrenamt in der Sehitlik-Moschee arbeitet Feride seit sechs Jahren für das Violence Prevention Network e.V.. Dieses organisiert diverse Projekte, die unter zwei Phänomene- Bereiche fallen: Rechtsextremismus und religiös motivierten Extremismus.
„Hierbei geht es vor allem um das Projekt ‚teach to reach’. Dieses richtet sich an Schulen und Jugendclubs, um dort spezifische Prävention zu betreiben. Wir bieten Workshops zum Thema Islam, Interreligiösität, Nah-Ost-Konflikt […] an. Und Multiplikatoren-Ausbildungen für diejenigen, die mit gefährdeten Jugendlichen arbeiten. Es geht darum, für Radikalisierungen achtsam zu machen und Strategien zur Bewältigung zu entwickeln. Wir versuchen darzustellen, wie vielfältig der Islam ist. Die Begriffe Islam und Muslim mit Inhalten zu füllen, die zuvor vielleicht nur einseitig dargestellt wurden. Ich habe als pädagogische Mitarbeiterin begonnen, inzwischen bin ich Koordinatorin dieses Projektes.“
Auch im Bereich der Justiz sind Feride und das Violence Prevention Network e.V. aktiv. In Berliner Gefängnissen bieten sie Präventions-, Anti-Gewalt- und Einzeltrainings mit den Inhaftierten an, deren Ziel Betreuung und Aufklärung über Religion und Gesellschaft ist.
„Es geht darum zu zeigen, dass es in einer so vielfältigen Gesellschaft möglich ist, friedlich miteinander zu leben. Islam leben bedeutet für mich auch: Frieden durch Hingabe zu Gott. Und Hingabe zu Gott bedeutet für mich gute Dinge tun und schlechte unterlassen. Hierdurch finde ich Frieden in mir selbst und kann diesen nach außen projizieren. Keine Religion ist an sich schlecht. Es ist die individuelle Auslegung, die manchmal schwer nachvollziehbar ist. Den Kern jeder Religion verstehe ich als ein Leben in der Gemeinschaft, in Liebe und vor allem in Frieden. Es erschreckt mich, dass es den verschiedenen Religionen so wichtig ist sich voneinander abzugrenzen, obwohl alle monotheistischen Religionen die gemeinsame Grundlage des Glaubens an einen alleinigen Schöpfer haben. Ich erkläre es mir durch die Angst davor, in einer so großen Gemeinschaft zu existieren. Durch eine Abgrenzung von anderen können wir einen Anspruch auf etwas erheben. Die Akzeptanz, dass wir nur Teil einer Sache sind und eigentlich gar nicht so anders wie unser Gegenüber ist schwer für uns.“
27 Prozent der in Deutschland postmigrantisch Befragten denkt, dass Muslim*innen aggressiver seien als sie selber. 30 Prozent glauben nicht, dass Muslim*innen genauso bildungsorientiert seien wie ihre eigene Gruppe. Die eigene Gruppe wird auf Nachfrage auffallend oft als „wir Deutschen“ genannt. Muslimisch und Deutsch werden als Gegenkategorien gedacht.
Offensichtlich kennen nicht alle den Islam und haben deshalb Vorurteile, denen auch Feride immer wieder begegnet. Die meisten kritischen Fragen werden Feride bezüglich der Rolle der Frau, der Position des Mannes und der Einschränkung der Muslime durch strenge Regeln und Gebote gestellt. Zwar findet mit 67 Prozent eine deutliche Mehrheit der in der Studie Befragten, dass es das Recht von Muslim*innen in Deutschland sei, Forderungen zu stellen, aber wenn es um konkrete Umsetzung geht, sieht es schon anders aus. Dann findet knapp über die Hälfte von jenen 46 Prozent, für die es besonders „wichtig ist, als Deutsche*r gesehen zu werden“, dass der Bau von Moscheen verboten und das Kopftuchtragen eingeschränkt werden sollte. Dort also, wo die nationale Identität einen hohen Stellenwert einnimmt, ist die Bereitschaft, Muslim*innen kulturell-religiöse, sozialräumliche oder symbolische Rechte vorzuenthalten, laut Studie, signifikant höher. Der Ausschluss aus dem kollektiven deutschen Narrativ findet somit nicht nur auf einer emotionalen Ebene statt, sondern hat Auswirkungen auf die Anerkennung, die Teilhabe und die Partizipationsmöglichkeiten von Minderheiten – in dem Falle Muslim*innen.
„Häufig entstehen Vorurteile durch Unwissenheit und fehlende Auseinandersetzung. Durch meine Erfahrungen in der Öffentlichkeitsarbeit habe ich verstanden, dass es besonders mit dem Kopftuch eine negative Assoziation gibt. Die Kopftuchtragende wird als unterdrückte, wenig intellektuelle, nicht autonom entscheidende Person wahrgenommen. Wenn man noch nie mit einem Muslim gesprochen hat kann sich so etwas natürlich weder lockern noch überhaupt erst diskutiert werden. Lernt man die Frauen, die das Kopftuch freiwillig tragen, kennen, merkt man, dass sie genauso wie alle anderen selbstbewusste, selbstreflektierte und intellektuelle Frauen sind. Sie tragen es aus eigener Entscheidung und Überzeugung heraus.“
Bei der Führung im August 2016 erzählt Feride, dass es ihr, gerade in einem männlich geprägten Studiengang wie dem an einer technischen Universität, schwer falle ein Kopftuch zu tragen und gleichzeitig auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden.
„Ich weiß, wie ich mit und ohne Tuch wirke, beides hat seine Vor- und Nachteile. Für mich ist es momentan wichtiger, meine inneren Werte zu stärken und zu verfestigen, da hier meine größten Baustellen liegen. Wenn das so weit ist, bin ich hoffentlich auf dem Weg zu sagen, dass ich mich, auch in dieser Gesellschaft stabil genug fühle, um mich nach außen hin erkennbar, als Muslimin zu zeigen. Mein Wesen ist nicht weniger schön, nur weil ich mein Aussehen bedecke. Es verlangt, glaube ich, großen Mut und starkes Selbstbewusstsein in Deutschland das Kopftuch zu tragen.
Nichtsdestotrotz trage ich die Bedeckung im Gebet. Es geht um eine bestimmte Haltung gegenüber dem Schöpfer. Nicht mit meinem Äußeren, sondern mit meiner Seele gehe ich das Gespräch mit ihm ein.“