Dürre 1
Abgeschottet. Als wäre der Schiefer in deine Kreise eingegangen und würde nun unter der Kreide hervorwinken. Aber die Beschwörung war dir abhanden.
Glasfaser 2
Der Kupferquell funkelt noch in der Blackbox, feine Legierungen, zart genug, um mit einem Blick gebrochen zu werden. In der Wüste ist wenig, das Orientierung bietet, außer der Traumgestalt eines Sternbildes. Heißen wir also die verschwindend geringe Stadt Morgana, und halten ihre verschwendenden Lichter dem Kerker entgegen. Es ist eine Stadt aus Staub und Reflexion, also nichts Ungewöhnliches am menschlichen Horizont: Eine Ansammlung aus Spielplätzen und Sackgassen, Peripherien und Zentren, Kanälen und Prachtbauten.
Auch die Bewohner Morganas zeichnen sich nicht durch außergewöhnliche Eigenschaften aus: Stecken sie Freitagabends im Verkehr fest oder warten sie allzu lange an Supermarktkassen, schimpfen sie, lieben sie hingegen, halten sie ihre Gesichter bedeckt und flüstern Gebete zu den Gespenstern unter ihren Bettlaken. Sie kennen ihre Grenzen und ihre Spielräume. Wissen, wann Gebären und wann Töten den Sitten entspricht. Was der Fall und was nicht der Fall ist. Ihre stochastischen Mittel sind von überwältigender Einfachheit. Zwischen fünfzigkommavier und neunundvierzigkommasechs Prozent liegt eine ganze Welt: eine Entscheidung. Sie lieben ihre Schwellenwerte. Ja und Nein sind die ersten Geschmäcker, die ihr Gaumen kosten lernt – der Rest ergibt sich daraus.
Wir wissen, dass wir Karten von Morgana anfertigen können. Dass es Einfahrten und bunte Straßenschilder gibt, Autobahnen und Bahnstrecken, Verkehrsknotenpunkte und Fußgängerzonen. Dass sich auf den Marktplätzen Schaulustige und Eingesessene tummeln, wissen wir auch, dass nachts die Cafés frequentiert werden und die Restaurants mit Stockfotos und Neonanzeigen locken. Dass Morgana Attraktionen und Touristenfallen hat, Kathedralen, Burgen und Tempel, Museen, Theater und Kinos, aber auch Rotlichtviertel und Untergrundetablissements ist gewiss. Ohnehin spielen sich neunundneunzig Prozent des Lebens Morganas im Untergrund ab.
Das ist selbstverständlich. Neunundneunzig Prozent, das ist nicht mehr als eine Fifty-fifty-Entscheidung zur sechsten Potenz, das heißt nicht mehr, als dass einer aus sechs Schritten, die ein Morganer tätigt, nach innen gerichtet ist. In Wahrheit sind es sicher viel mehr. Denn das Leben Morganas findet hinter verschlossenen Türen und zugezogenen Vorhängen, in Gassennischen, Toiletten und verfallenen Bürobauten, unter Bettdecken und vor strahlenden Bildschirmen statt. Auch das ist alltäglich.
Nichts ist uns bekannter als die Geräuschkulisse Morganas. Die Schreie der Motoren und das Gröhlen der Hupen des Pendlerverkehrs. Heimlich sind uns auch die schrillen Konzerte der Kläranlage, das emsige Rattern der Bestattungsinstitute, das Fließbandschnurren an der Kassa, nicht zu vergessen: das Knistern der Kloake oder das weiße Rauschen eines Spatzenständchens, morgens, wenn wir die Parks besuchen. Und erst die Stimmen.
Auch Morgana käme nicht ohne die lallende Sinuskurven Betrunkener oder plötzliche Implosionen pubertierenden Gekichers, ohne die regen Oszillationen der Nervenbündel, ohne das Seufzen Gekränkter, die scharfen Kanten latenter Aggression, die gezogenen Vokale Mondsüchtiger oder ohne die explosiven Konsonanten habitueller Büroinsassen aus. Nirgends wird der Reiz so lebendig wie im Spiel der Inferenzen, der Unkenntlichkeit von Signal und Lärm.
Während die Ohren noch von der Farbenpracht Morganas betäubt sind, wissen die Finger Umwege und Abkürzungen zu deuten. Die Pfade von Raufaserverputz, von der übermäßigen Trockenheit des Steines, hinweg über die Glätte metallener Trägerbalken, beschreiben die Übergänge von Wohnbauten zu Industrievierteln. Der Grad der Ellbogenfreiheit: Ob wir unsere Arme beim Gehen ausstrecken oder nur eng am Körper anliegend tragen können, hilft uns, zwischen den Einkaufsstraßen der Zentren und den vergessenen Plätzen am Stadtrand zu unterscheiden. Selbst die schweren Stiefel, Straten zwischen Fuß und Erde, stören unseren Schritt nicht: Erkennen wir doch, wann sich der Boden unter uns zurechtbiegt an den Baustellen, Grünflächen, Rindenbetten, und wie der Beton sich gegen uns aufzubäumen wagt.
Nur wie Morgana riecht, ahnen wir nicht. Selbst der Geruch verbrannter Drähte schlägt sich hier in der Luft nicht nieder.
Die Liebenden 3
Und ihr lauft. Vorbei an Werbetafeln mit wandelnden Botschaften, überdimensionierte Körperflächen, eine Frau mit verschränkten Armen und weißem Hemd, auf die Passanten herabblickend, daneben die Mahnung: Your lag: Resolution … langsam sich auflösend, Relais zu Relais, um die Form einer lächelnden Kleinfamilie beim Spieleabend anzunehmen: All over displays! in knalligen Lettern, Schrifttyp Joker, und ihr rennt, vorbei an den Archetypen und Zielgruppen, den großen und kleinen Erzählungen, die den Alltag erst schmackhaft machen, um in eure eigene Bilderserie eintreten zu können. Lachend, Hand in Hand. Aber gehört dieser Abend wirklich euch? Es sind die Formen, die ihr passiert, die ihr annehmt, der rasche Zug der Beine, das Hinübergleiten, dessen ihr euch nicht sicher seid. Wie häufig seid ihr bereits durch die Hologramme gerannt.
Um in den toten Winkeln der Leuchtanzeigen beieinander zu hocken, ein Knäuel aus Haar und Knochen zu bilden, während die Kabel an euren Gelenken vorbeistreifen. Noch ist die Sensation dieselbe: Das Kribbeln kurzgeschlossener Hautstücke, die Verzahnung von Locken, die unsichere Schaltung der Zungen. Könnt ihr die Stimuli leugnen? Und trotzdem bleibt das Déjà-vu, diese grässliche Ahnung, dass genau dieser Moment, dieser Augenblick, der eben nicht länger als ein Zwinkern sein sollte, sich allzu sehr in die Länge zieht. Dass ihr ihn zu oft durchlebt hat. Vielleicht schlimmer, dass die Rückseite der Werbetafel kein geheimes Plätzchen, kein Heiligtum des gemeinen Stelldicheins, sondern eine wohlbeleuchtete Bühne sein könnte, und neben euch, jede Sekunde, Schriftzeichen und Scheinwerfer aufflammen könnten, um euch endgültig als mittelmäßige Darsteller einer b-rated Romance zu brandmarken.
Habt ihr euch nicht vorbereitet? Habt ihr nicht Granaten und Maschinengewehre mitgebracht, um genau diese Grenze zu sprengen? Euch die Maskierungen tief unter die Nasen gezogen, um der Erkennbarkeit zu entgehen? Nur passiert etwas Seltsames. Je instrumentaler eure Gelenke werden, desto berechneter die Abläufe, je vorhersehbarer die Seufzer, umso sinnlicher die Berührung. Umso enger verstrickt ihr. Es sind die Zweifel, die eure Getriebe schmieren, die Nähe zum Cliché und der Wunsch, ihm zu entgehen, was eure Zündungen überhitzt. Als hättet ihr aus den Bausteinen bekannter Berührungen etwas gebastelt, das die Summe der Bilder übersteigt.
Wolltet ihr gar gesehen werden?
Oder nur etwas teilen …
Dürre 5
Er sagt zu dir: Was für eine schöne Maschine du doch bist. So diskret. Ob er deine Menschlichkeit meint, weißt du nicht.