Ich bilde mir ein, mich an hohe Fenster zu erinnern. An Licht, das durch Pflanzen auf der Fensterbank scheint. An sonnengebleichtes Parkett. An mit Bilderrahmen und Leinwänden bedeckte Wände. An den Geruch von Farbe, verschlissene Kissen, Lampen aus Buntglas. Und an das Gesicht meines Vaters, wie es auf dem Foto auf meinem Nachttisch aussieht.
Das ist alles, was von meinem ersten Zuhause übrig ist. An das Gefühl von Vollständigkeit erinnere ich mich nicht. Nur an dessen spätere Abwesenheit.
Von dem zweiten Zuhause, dem Haus meiner Tante, schält sich aus meiner Erinnerung zuerst die Treppe heraus. Die drei Stufen, die ich noch nicht zählen kann. Die mittlere Stufe, auf der ich sitze, die Füße auf der unteren, den Rücken gegen die obere gelehnt. Die Kerbe im Beton, deren Ränder unregelmäßig sind, spitz und gebirgig wie meine Backenzähne, wenn ich mit dem Finger darübertaste.
Mein drittes Lebensjahr ist diese Treppe. Von dort fächert sich meine Welt auf. Nur was von ihr aus sichtbar ist, existiert. Die Straße, die Nachbarn, das italienische Restaurant nebenan. Der Lieferjunge steckt mir manchmal ein Stück Kuchen zu, das meine Hände klebrig macht. Ich wische sie am Rand der Treppe ab, hinterlasse eine fettige Spur, die den Stein mit jedem Mal dunkler färbt. Ameisentruppen, die zu meinen Füßen vorbeimarschieren und die Reste aufsammeln. Der Briefträger, der mir den Kopf tätschelt. Das Quietschen der Briefkastenklappe, das hohle Auftreffen der Papierkante auf dem metallenen Boden des Kastens. Wieder Quietschen.
Nur selten ein Auto. Bei Regen spritzt das von den Reifen aufgescheuchte Wasser fast bis zu mir herüber. Auf der Straße bildet der Regen Pfützen und Bäche, in denen sich abends die Lichter spiegeln. Knapp vor meinen Füßen tropft es auf das rötliche Pflaster des Gehwegs. Die Nässe erreicht mich nicht, nur feuchte Kälte, die mir in die Hosenbeine kriecht.
Den ganzen Tag Beine, die vorbeigehen, laufen, rennen, schlurfen. Schritte auf dem Gehweg. Harte, rhythmische Schritte. Männerschritte. Vertraut klingende Männerschritte. Ein Blick die Beine hinauf ins Gesicht, das zu klein ist und zu blond und zu fremd. Fremd auch die Beine, die an mir vorbei ins Haus gehen, kurz stehen bleiben. Hände auf meinem Haar. Blanke Köpfe, denen mein Gedächtnis wahllos Gesichter aufsetzt. Nachbarn, Verwandte, der Pastor, der damals noch ein anderer gewesen sein muss. Lächelnde Gesichter und lächelnde Stimmen, die mir Süßigkeiten in die Hände drücken. Und immer wieder Hände auf meinem Haar. Mal sanft streichelnd, mal so resolut tätschelnd, dass mein Kopf sich zwischen meine Schultern schiebt. Manchmal hockt sich jemand zu mir. Das Gesicht knapp vor meinem. Meistens Frauen. Die Hand nach mir ausgestreckt, als wollten sie, dass ich danach greife. Um mich mit ins Haus zu nehmen wahrscheinlich. Aber ich bleibe sitzen, warte. Irgendwann gehen sie immer.
Meine Tante lässt mich in Ruhe. Sie ist die Tür, die mittags aufgeht und aus der sich ein Teller mit Brot herausschiebt. Ein Apfel. Ein Glas Milch oder Saft. Sie ist die unsichtbare Präsenz hinter dem Küchenfenster. Erst später, als ich groß genug war, um über die Fensterbank zu schauen, wurde mir klar, dass sie mich von dort aus ständig im Blick hatte. Aber damals nahm ich nur gelegentlich ihr Klappern hinter dem geöffneten Fenster wahr. Und die immer gleiche Melodie, die sie bei der Arbeit summte.
Die Stimmen meiner Cousins und meiner Cousinen auf der anderen Seite des Hauses. Das Kreischen der Jüngeren, das Lachen der Älteren. Alle vier, die an der Treppe an mir vorbeidrängen, mich anstupsen, mich am Arm mit sich ziehen. Ich, die sich wehrt, sich mit dem ganzen Gewicht zurücklehnt, losgelassen wird, hart auf die Stufe zurückfällt. Mein ältester Cousin, der versucht, mich mit Bonbons zu locken. Meine Cousinen, die an mir vorbei die Treppen hinunterhüpfen, sich nicht umschauen, die Straße hinunter verschwinden.
Das Haus, das ist das Geschimpfe der Tante, das Geschnatter der Cousinen, das Gegröle der Cousins, ihr Gehüpfe und Geheule und das Gejammere und Gezetere der Nachbarinnen, die sich den Tag mit Kaffeetrinken bei meiner Tante verkürzen. Das Haus ist all diese Töne, eingeschlossen in dämmrigen Räumen mit zu großen Sesseln und zu dunklen Möbeln. Und zwischen mir und all dem die schützende, dämpfende Haustür. Und um mich herum das Brummen der Motoren, das Geklapper der Schritte, das Surren der Fahrräder, das Hallo und Wie geht’s und Mach’s gut.
Und dann sind da noch Details, die zusammenhanglos in meinem Gedächtnis kleben. Details wie ausgeschnitten aus einem größeren Bild. Ein Strauß Blumen, weiß mit buttrigem Kern, wie überdimensionale Gänseblümchen. Ein paar ausgetretene Lederstiefel, braun, nur zur Hälfte geschnürt und an den Spitzen hell und abgewetzt. Ein Hemd, blau-weiß gestreift, dem ein Knopf am Kragen fehlt. Kinderschuhe aus schwarzem Lack, die über den Gehsteig hüpfen, immer zwei Hüpfer mit einem Fuß. Tadam. Tadam. Tadam. Ein mit schwarzer Spitze besetztes Kleid. Der platte Reifen eines Fahrrads. Blank polierte Anzugschuhe. Und immer wieder der graue Beton unter meinen Füßen.
Das war mein drittes Lebensjahr. Die Treppe, die Treppe vor dem Haus meiner Tante. Von dort fächerte sich meine Welt auf. Nur was von ihr aus sichtbar war, existierte. Fast ein ganzes Jahr lang war das meine Welt. Meine Welt, die aus Warten bestand, bis abends meine Mutter heimkam, mich von den Stufen auflas und mit ins Haus nahm. Ins Haus meiner Tante, das jetzt auch unseres war. Dann klappte sich die Welt um meine Mutter herum zusammen und blieb bis zum Morgen fest und warm und beinahe vollständig.
An den letzten Tag erinnere ich mich nicht. Den letzten Tag auf der Treppe. Ein Tag war alle Tage und alle Tage gleich. Und irgendwann vorbei.
ς
Aus: Larissa Böttcher, Elena Groß, Silvie Lang, Valentin Pretzer, Mara Schepsmeier (Hrsg.): Vielleicht waren wir Kinder. Edition Paechterhaus 2017.