»Bevor es hell wird« – im Wortsinn bezeichnet der Titel von Jens Eisels erstem Roman die Zeit, in der es dunkel ist. Eine scheinbar klare Sache. Doch auch hier gibt es Graustufen: die Zeit, kurz bevor es hell wird. Wenn die Nacht allmählich weicht, es aber noch nicht Tag geworden ist. Das Halbdunkel, die Dämmerung, das Zwielicht. Ein Titel also, der einen Übergang beschreibt, einen Zwischenzustand.
Konkret handelt der Roman von zwei Brüdern, die gemeinsam mit ihrer Mutter nach Hamburg ziehen und sich dort zum ersten Mal wirklich zuhause fühlen. Bis das Schicksal eine tragische Wendung nimmt, die Bruder auf sich allein gestellt sind und beginnen müssen, ihr Leben neu zu sortieren. Alex, der jüngere der beiden Bruder, erzählt die Geschichte.
Er ist eine gesellschaftliche Randfigur, aufgewachsen in einfachsten Verhältnissen. Die Mutter arbeitet an der Kasse im Baumarkt, der Bruder macht eine Ausbildung zum Koch, Alex geht zur Hauptschule und lernt danach Kfz- Mechaniker. Wir erfahren viel über diese Leben und gewinnen nach und nach den Eindruck, dass Eisel sich an einer Milieustudie versucht. Gleichzeitig hat der Roman aber auch die Anmutung eines Biopics. Schlaglichtartig arbeitet Alex sich durch seine Biografie, im Prolog beginnend 2004, nach vorne spulend auf das Jahr 2006, zurück zu 1996, vor, zurück, wieder vor, wieder zurück, mit dem Epilog endend, im Jahr 2011.
Was uns bei der Lektüre klar wird: dass 200 Seiten etwas knapp bemessen sind fur diese Menge an Zeitebenen und Zeitsprüngen. Und für die geballte Ladung Tragik, der Alex ausgesetzt wird. Umso irritierter sind wir deshalb, wenn zwischen all den Dramen und Schicksalsschlägen immer wieder zu langatmigen Ereignisschilderungen ausgeholt wird, die sich wie Fremdkörper im dramatischen Grundgerüst der Geschichte ausnehmen. Und Auch Eisels Sprache ist nicht wirklich konsistent. So passt sie sich einerseits der Schlichtheit der Figuren an, lässt uns leicht durch die Seiten blättern und vermittelt uns ein Aroma des Authentischen. Andererseits werden wir immer wieder mit Kitschfilmdialogen konfrontiert, die nur noch wenig mit unserer Vorstellung von Hamburger Randmilieus zu tun haben
Randmilieus und gesellschaftliche Außenseiter literarisch glaubhaft abzubilden: Das ist eine Kunst, die gerade en vogue ist. Clemens Meyer setzte 2006 diesen Trend mit seinem autobiografisch gefärbten, in der Leipziger Arbeiterschicht angesiedelten Debut Als wir träumten. Philipp Winkler traf letztes Jahr mit seinem Roman Hool über die Hannoveraner Hooliganszene den Nerv der Zeit und schrieb damit das erfolgreichste Buch der Saison.
Jens Eisel, früher Hausmeister und Lagerarbeiter, reiht sich ein in diese Literatur. Es bleibt allerdings beim Versuch. Zu unpräzise ist die Sprache, zu zerfasert die Story. Weder haben wir es mit einer glaubhaften Milieustudie zu tun, noch mit einem tiefenscharfen Charakterporträt. So stellen wir dann auch am Ende des Romans fest, dass wir nach diesen 205 Seiten so ratlos und unwissend sind, wie wir uns fühlen, wenn wir in der Dämmerung aufwachen und nicht wissen, ob es gerade hell oder dunkel sein soll.
Jens Eisel: Bevor es hell wird. Roman. Piper 2017, 208 Seiten.