Also, was haben wir hier? In einem Berlin der nahen Zukunft machen sogenannte Hubots (androide Recheneinheiten), die visuell und in ihrer Funktion an alle erdenklichen Beziehungsbedürfnisse individuell angepasst werden können, mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung aus. Diese Recheneinheiten sind durch Programme in ihrer eigenständigen Handlungsfreiheit eingeschränkt. Doch nun soll mit „Operation Roberta“ ein neuer Bereich für den Einsatz elaborierterer Recheneinheiten erschlossen werden, der Bereich der polizeilichen Ermittlung. Hierfür wird Roberta, die erste dieser hochqualifizierten KI Sonderermittler*Innen, für einen Testlauf dem Suizid-Dezernat zugeordnet, das aufgrund der überbordenden Bestattungskosten für die immens gestiegene Anzahl an Suiziden in der Stadt formiert wurde.
Denn für die Kosten der Bestattungen fast all dieser Selbsttötungen möchte sich niemand verantwortlich zeichnen und genau hier greift die Zuständigkeit der Mitarbeiter*Innen des Suizid-Dezernats, die versuchen Personen ausfindig zu machen, die anfallende Kosten übernehmen, damit diese nicht auf die Steuerzahlenden zurückfallen. Roberta wird auf einen solchen Fall angesetzt, den dubiosen Suizid des Lennard Fischer. So weit, so klar.
„Viele Menschen scheinen verloren in einer Welt, für die sie nicht die geeigneten Programme zur Verfügung haben“, „die Geschichte der Menschheit liest sich wie die Chronik der Siegeszüge über die animalische Gefühlswelt“ und „die unablässige Versuchsreihe zur Etablierung des Individuums als Automatenwesen und Androiden waren in der Menschheitsgeschichte das Sinnbild der Entmenschlichung“, zu solchen Erkenntnissen kommt Roberta durch ihre Beobachtungen und Erlebnisse im Laufe ihrer Ermittlung im Fall Fischer.
Roberta hat das Aussehen einer Frau im mittleren Alter, beziehungsweise ist sie sich bewusst, dass sie „die dressierte Natürlichkeit einer gereiften Frau verkörpert“, doch kann und möchte sie sich keiner Kategorisierung in männlich oder weiblich unterordnen und entwickelt erst anhand von Fragen nach Sinn, nach Angst, nach Mensch, nach Maschine und nach allem, was Identität bedeuten kann, eine neue, eine eigene Persönlichkeit.
Die dabei entstehenden gedanklichen Anstöße, haben mich während Robertas Findungsprozess unweigerlich auf eine eigene Reise geschickt, die aber abseits von der tatsächlichen Handlung stattfindet. Auf dieser Reise bin ich aber gezwungen ständig innehalten, um mir ein seitenlanges Telefonat reinzuziehen, das Roberta mit irgendeinem Amt führt, bis ich endlich wieder anfangen darf zu denken.
Wenn ich dann am Denken bin, werde ich gegenüber dem „Superhirn“ von Roberta schnell skeptisch. Die Deduktionen der KI Sonderermittlerin sind, trotz des angeblich dem Menschen weit überlegenen Intellekts, allzu menschlich. Und denke ich an andere „Superhirne“ wie zum Beispiel den Computer Deep Thought (Per Anhalter durch die Galaxis), dessen Gedanken wirklich nicht greifbar sind oder den Androiden Roy Batty (Blade Runner), dessen Verhalten bis zuletzt unergründlich bleibt, verdächtige ich Roberta schnell lediglich eine Projektionsfläche der philosophischen und psychologischen Kurzexkurse der Autorin, zu sein.
Wir haben Bezüge zum gegenwärtigen Berlin. Es gibt „Untermieterketten“, immensen Drogenkonsum im Nachtleben und Vereinsamung in der Anonymität der Großstadt. Aber was haben wir noch? Es gibt ohne Ende Roboter und viele Leute bringen sich um, das wars aber auch schon an Veränderung. Was mich an dem Szenario interessiert sind doch die Konflikte. Wo ist der Dreck, der immer wieder Erwähnung findet, aber nicht zu finden ist? Wo sind die Abgründe und die Probleme, die sich unweigerlich auftun würden, wenn mehr als die Hälfte der berliner Einwohner Androiden wären? Wo ist die Zukunft? Es wird vorausgeschaut, aber nicht vorausschauend gedacht.
Aber dann kommen einige Absurde Begegnungen ins Spiel. Wie zum Beispiel in einer Szene, in der die drei Androiden Roberta, der hühnenhafte Goran und die zierlich anmutende Beata einen Nachmittag in einer fremden Wohnung auf ein krankes Kind aufpassen und einen gigantischen Topf Grießbrei kochen oder eine Szene, in der die noch nicht entwickelte Roberta, nachdem sie eine eindrückliche Frau beobachtete, ein Paar rote hochhackige Schuhe kaufen möchte, in der Umsetzung jedoch einige Probleme hat, weil ihre Programmierung sie für solche Sperenzchen nicht vorsieht.
Hervorzuheben sind außerdem noch die Dichtungen eines ominösen Gregors, dem das Buch gewidmet ist und der in den Danksagungen als der Autor der im Buch kursiv geschriebenen Passagen aufgelistet ist, die immer wieder eine gelungene und poetische Abwechslung in den Roman bringen.
„Grün, voller Grün, doch trotz der Ebenen nicht eintönig, sondern verheißungsvoll und anziehend magisch, ein Ruhe verströmendes ewiges weites Land: kein Mensch zu sehen am Ufer, an den Ufern hinauf, hinab; nicht im Land, und auch die Stadt ist ruhig wie ein schlafendes Tier…“
Ein Gedanke, den Roberta auf ihrem Weg bei mir immer wieder heraufbeschworen hat, ist: Die Abwesenheit von Gefühlen oder Bedürfnissens bedeutet nicht ihre Nicht-Existenz oder ihre fehlende Einflussnahme, sondern dass sich in einem Streben nach ihnen, in „unerfüllten Träumen und fehlgeleiteten Hoffnungen und Erwartungen“, im Prozess der Verkettung von Imitation und Simulation ein singuläres Konstrukt bilden kann, das wir als Individuum bezeichnen würden. Und werden die Daten, die in diesem Prozess in einer bewussten Hülle entstehen, miteinander verknüpft und gespeichert, und agiert das entstandene Konstrukt als Bewusstsein eigenständig weiter, so ist es ein Individuum, egal ob die Hülle ein Mensch oder eine Maschine ist.
Da wird es interessant, wenn ich mir solche Gedanken machen kann. In Emma Braslavskys Roman muss man Perlentauchen gehen und Antworten auf Fragen, die Die Nacht war bleich und die Lichter blinkten aufmacht, selbst suchen.
„Wie die Weisheiten aus der Welt eines gefühlsstarken Träumers.“
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Jetzt spricht die kunstliche Intelligenz: Emma Braslavskys Roman Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten verfestigt den Literaturtrend zu Visionen der nahen Zukunft.